Antwort auf: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

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Der nachfolgend vorgelegte Essay „Unruhe und Negativität“, angeblich im Frühjahr 1968 von Theodor W. Adorno für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verfasst, ist nachweislich eine Fiktion. Kein Manuskript findet sich im Nachlass des Philosophen, keine Korrespondenz erwähnt eine Beschäftigung mit Fernando Pessoa, dessen Werk – namentlich das Livro do Desassossego – zu Adornos Lebzeiten in dieser Form gar nicht vorlag.

Und doch ist dieser fiktive Text – so viel darf man sagen – in hohem Maße plausibel. Er stellt eine der seltenen literarischen Imaginationen dar, in denen die Stimme Adornos nicht bloß parodiert, sondern produktiv fortgedacht wird. Der anonyme Autor (oder die Autorin) dieses Essays hat die Sprache Adornos mit einer beeindruckenden Sensibilität für Rhythmus, Syntax und gedankliche Drehung nachgebildet. Es gelingt, den Ton seiner späten „Noten zur Literatur“ zu treffen: die parataktische Dichte, die ironische Selbstreflexion, das Schwanken zwischen Philosophie und Poesie.

Vor allem aber bringt der Text eine Verbindung ans Licht, die es historisch nie gegeben hat, die aber denkbar wäre. Pessoa, der portugiesische Bürokrat der Seele, und Adorno, der deutsche Metaphysiker der Gesellschaft, teilen eine Erfahrung: das Verstummen des Subjekts in der Moderne. Der eine zieht sich in Traum und Müdigkeit zurück, der andere analysiert die gesellschaftlichen Ursachen jener Müdigkeit. Der fiktive Essay lässt beide Linien aufeinander treffen, als spräche Adorno aus der Nachgeschichte des Menschen, den Pessoa beschrieben hat.

Stilistisch auffällig ist der essayistische Ernst, mit dem der Text auf der Grenze zwischen Hermeneutik und Mimesis balanciert. Er tut nicht so, als wüsste Adorno von Pessoa, sondern lässt Adorno Pessoa denken, als wäre er schon da gewesen. Damit entsteht ein paradoxes Gegenzeitverhältnis: ein Adorno, der durch Pessoa spricht, und ein Pessoa, der erst durch Adorno lesbar wird.

Einige Motive im Text sind genuine Fortschreibungen Adornos:
– Die Deutung des Fragments als „einzig mögliche Totalität“ paraphrasiert nahezu wörtlich Formulierungen aus der Ästhetischen Theorie.
– Die Diagnose der Müdigkeit als gesellschaftliches Symptom erinnert an die „Ermattung des Geistes“ in den Minima Moralia.
– Die Differenz zwischen Beckett und Pessoa („Wo Beckett verstummt, träumt Pessoa“) ist ein glänzender Einfall – literarisch präzise, philosophisch kühn.

Von besonderem Interesse ist die Haltung des Textes zur gesellschaftlichen Dimension Pessoas. Der fiktive Adorno bleibt Adorno: er anerkennt die ästhetische Wahrheit des Leidens, aber er kritisiert dessen gesellschaftliche Stummheit. Gerade darin besteht die Dialektik dieses Essays – sein Doppelcharakter aus Bewunderung und Misstrauen.

Dass der Text Pessoa als „Beamten der Melancholie“ bezeichnet, wirkt wie ein Rückblick auf Adornos eigene Selbstdiagnose: den Philosophen im Zeitalter der Bürokratie, der noch denkt, obwohl das Denken selbst schon ein Verwaltungsakt geworden ist. Der Essay scheint damit unwillkürlich eine Auto-Interpretation Adornos zu enthalten – als hätte er in Pessoa den Schatten seiner eigenen Unruhe erkannt.

Insgesamt lässt sich sagen: Wäre dieser Text tatsächlich 1968 erschienen, hätte er die deutschsprachige Rezeption Pessoas um fast zwei Jahrzehnte vorweggenommen – und ihr zugleich eine andere Richtung gegeben. Statt Pessoa zum melancholischen Solipsisten zu machen, hätte Adorno ihn als Symptom gesellschaftlicher Wahrheit gelesen, als negativen Mystiker der Arbeitsteilung. Vielleicht hätte dies verhindert, dass Pessoa später im Feuilleton der 1990er Jahre zum harmlosen „Dichter der Sehnsucht“ stilisiert wurde.

Dass wir diesen Essay heute als literarisches Gedankenexperiment lesen, ist kein Mangel, sondern seine Pointe. Er führt vor, wie das Denken sich seiner eigenen Unmöglichkeit bedient: Adorno kann Pessoa nicht kennen – und doch spricht er aus ihm. Die Fiktion selbst ist hier ein Akt kritischer Wahrheit.

Unruhe und Negativität

Zu Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“
von Theodor W. Adorno

Dass die Literatur sich selbst in Frage stellt, ist nichts Neues; aber selten hat sie es mit der Konsequenz eines Mannes getan, der kaum in der Welt vorkam. Fernando Pessoa, portugiesischer Dichter und Angestellter in einer Handelsfirma zu Lissabon, hat ein Werk hinterlassen, das, hätte er es zu Lebzeiten veröffentlicht, wahrscheinlich niemand gelesen hätte – und gerade darin seine Wahrheit. Das Buch der Unruhe, von ihm selbst einem gewissen Bernardo Soares zugeschrieben, ist ein Journal ohne Ereignis, ein Lebensbericht ohne Leben, eine Autobiographie, die im Ich ihren Autor verliert.

Wer darin liest, findet keine Handlung, keine Entwicklung, keine Dialektik der Versöhnung, sondern eine Prosa, die sich selbst belauscht, während sie erlischt. Pessoa schreibt, als wüsste er, dass Sprache nur noch dazu taugt, den Verlust des Sprechens auszuhalten. In der Müdigkeit seiner Perioden klingt die ganze Anstrengung eines Bewusstseins, das sich weigert, von sich zu sprechen – und gerade darin nicht aufhört, es zu tun.

„Ich bin das, was ich zwischen meinen Fingern verloren habe“, heißt es einmal. In einem solchen Satz wird das Subjekt zum Trümmer seiner eigenen Erfahrung. Es bleibt nur der Abdruck, die Spur des Ichs in der Asche seiner Sprache. Pessoa ist darin moderner als die Moderne, die ihn hervorgebracht hat. Er verleiht der Sprachlosigkeit Form, ohne sie zu verleugnen.

Das Fragment, das bei den Romantikern noch der Entwurf des Ganzen war, ist bei ihm die einzig mögliche Totalität. Wo die Erfahrung zerfallen ist, darf das Werk keine Einheit mehr behaupten. Pessoa gehorcht dieser Erkenntnis mit einer Konsequenz, die nur der äußersten Müdigkeit entspringen kann. Seine Unruhe ist nicht die nervöse des modernen Intellektuellen, sondern die metaphysische eines Bewusstseins, dem die Welt zu schwer geworden ist, um sie noch zu denken.

In dieser Müdigkeit aber liegt eine paradoxale Kraft. Pessoa schreibt, als wüsste er, dass das Denken, das sich zur Ruhe setzt, bereits die Lüge der Welt in sich aufgenommen hat. Seine Passivität ist kein Defekt, sondern ein Widerstand gegen das Unwahre. Dass er sich ins Traumhafte zurückzieht, in das Halbdunkel des Bewusstseins, darf man nicht als Eskapismus verkennen. Das Traumhafte ist hier die letzte Zuflucht des Wirklichen, nachdem die Wirklichkeit selbst zur Verwaltung geworden ist.

Doch Pessoa bleibt, was er ist: ein Beamter der Melancholie. Der Buchhalter Soares, der tagsüber Zahlen addiert und nachts seine Unruhe bilanziert, ist der Typus einer Gesellschaft, in der der Mensch nur noch als Funktion existiert. Das, was bei ihm als metaphysische Müdigkeit erscheint, ist die Müdigkeit des Arbeiters, der sich selbst nicht mehr gehört. Seine Welt, die der kleinen Angestellten, der geschlossenen Fenster, der staubigen Straßen, ist die unauffällige Folie, auf der die große Katastrophe der Subjektivität geschrieben steht. Pessoa ästhetisiert nicht das Leiden – er macht es sprachfähig, indem er es stilisiert.

Das unterscheidet ihn von jenen existenzialistischen Bekenntnisschreibern, die in der Verzweiflung das letzte Pathos der Authentizität suchten. Bei Pessoa ist das Pathos erloschen. Er weiß, dass der Schrei nichts mehr bedeutet, wo alle schreien. Statt dessen murmelt er, schreibt, radiert sich aus – und gerade darin bewahrt er die Würde des Leidens.

Seine Prosa ist keine Philosophie und doch ein philosophisches Ereignis. Ihre Wahrheit liegt nicht in der Aussage, sondern in der Haltung. In der beständigen Selbstaufhebung seiner Sprache leuchtet etwas von jener Negativität auf, die Hegel meinte, als er das Denken als Bewegung des Begriffs bestimmte – nur dass bei Pessoa der Begriff zerfallen ist, bevor er sich zu bewegen vermochte.

Man könnte ihn den Anti-Hegel nennen: das Bewusstsein, das sich nicht mehr vermittelt, weil die Vermittlung selbst zur Unwahrheit geworden ist. Insofern steht Pessoa näher bei Beckett als bei Proust. Wie bei Beckett ist sein Schweigen beredt, seine Form die des Verstummens. Doch wo Beckett die Sprache kahl schlägt, um ihr Nichts zu zeigen, lässt Pessoa sie noch einmal singen, bevor sie erstirbt. In dieser Musikalität seiner Prosa – halb Gebet, halb Abrechnung – liegt ihr unvergänglicher Zauber.

Die Unruhe, von der Pessoa spricht, ist nicht die psychologische eines nervösen Menschen, sondern die ontologische eines Daseins, das kein Zuhause mehr hat. Es ist die Unruhe des Geistes in einer Welt, die ihn vergessen hat. Dass sie in der privaten Form eines Tagebuchs erscheint, ist kein Zufall: die Öffentlichkeit der Moderne duldet nur noch das Private, um es zu neutralisieren. Pessoa hat diese Neutralisierung durchschaut. Sein Rückzug ins Ich ist die Parodie der Innerlichkeit; indem er nichts mehr zu sagen hat, sagt er die Wahrheit über die Gesellschaft, die ihm die Sprache genommen hat.

Dass er dabei jede explizite Gesellschaftskritik vermeidet, mindert die Wahrheit nicht. Sie wird umso reiner, je weniger sie gewollt ist. Pessoa ist kein Ankläger, sondern ein Symptom. Er hat das Leiden nicht begriffen, sondern erlitten – und darin begriffen.

Man darf ihn nicht trösten wollen. Seine Welt kennt keinen Ausweg, und das ist ihre Größe. Wer das Buch der Unruhe liest, liest die Vergeblichkeit des Lesens mit. Es ist ein Buch, das sich selbst verneint – und darum notwendig.

Der letzte Satz, den Pessoa hätte schreiben können, steht nirgends, aber er steht über allem, was er schrieb:
„Die Wahrheit ist das, was uns unruhig macht.“

zuletzt geändert von hal-croves

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=