Antwort auf: Jazz-Neuerscheinungen (Neuheiten/Neue Aufnahmen)

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gypsy-tail-wind
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Anouar Brahem – After the Last Sky | Drüben wurde um ein paar Worte gebeten … nach vier oder fünf Durchgängen will ich es versuchen. Das neue Album von Anouar Brahem bringt wieder Django Bates (p) und Dave Holland (b) zusammen, doch es ist sehr anders als der sieben Jahre zuvor eingespielte (beide schnell veröffentlicht, das neue wurde im Mai 2024 in Lugano aufgenommen) Vorgänger, der ja eher ein – grossartiger! – Ausreisser in Brahmes Diskographie darstellt. Statt eines Schlagzeugers ist hier erstmals ein Cello dabei, gespielt von Anja Lechner, mit der Brahem gemäss Adam Shatz‘ langem Essay im Booklet schon länger spielen wollte. Das Cello wird quasi zu zweiten Leitstimme neben der Oud, doch zugleich ist es verblüffend, wie Bates und vor allem Holland mit dem Instrument von Brahem fast verschmelzen, seine Phrasierung übernehmen, seine Melodien nahtlos fortspinnen. Das Ergebnis ist ein intimer Dialog, eine Art Kammermusik, die sich an den Grenzen, den Übergängen trifft, wie so oft bei Brahem – er macht ja keine „Fusion“ sondern Musik, die in Zwischenräumen lebt (Shatz geht von „Barzahk“ aus, dem ECM-Debüt von 1991, dessen arabischer Titel „separation“ oder „barrier“ bedeutet). Die Kunst der Maqamat – die arabischen Moden, das ganze Musiksystem der Region – spielt hier keine zentrale Rolle, das Quartett trifft sich an einem neuen Ort („Maqam“, das wusste ich nicht, heisst wörtlich gemäss Wikipedia „Ort, auf dem etwas errichtet ist“), an dem Jazz, die europäische Klassik, Tango und andere Einflüsse sich treffen. Das Ergebnis – vor der Tragödie Palästinas entstanden aber bei Brahem natürlich ohne jeglichen pädagogischen Furor – ist eine nachdenkliche, ruhige und doch sehr bewegte Musik, die bei mir ganz allmählich einsickert und sich mit jedem Hören neu öffnet. Ein zarter Dialog, eine fragile Nähe (Shatz leiht sich die „closeness“ von Charlie Haden aus), die im erwähnten sehr engen, aufeinander bezogenen Spiel immer wieder neu entsteht. Shatz meint, das Album sei vielleicht so etwas wie Brahems „Quatuor pour le fin du temps“ und auch eine Art Fortschreibung von „Ballad for the Fallen“, kein Requiem und keine Kapitulation sondern eine zarte Musik der Hoffnung, die ganz ohne Sentimentalität oder Melancholie auskommt und vielleicht gerade darin eine Kraft findet, die vielleicht wieder über die Musik hinaus weist. Der Albumtitel stammt von Edward Saïd, Shatz ordnet das alles ausführlich ein (auf 10 Seiten, nur in englischer Sprache) und verweist auch auf den Dichter Mahmoud Darwish (dem Brahem mit „The Astounding Eyes of Rita“ ein Album gewidmet hat). Darwish schrieb auch die Zeile: „Where should the birds fly after the last sky?“ – da sind wir wieder im Raum des Überganges, der Grenzen. Wo sind die Toten, wenn sie nicht mehr da sind? Wie (be)greift man das Unsichtbare, das, was nicht begriffen oder gegriffen werden kann? Brahems Musik kann das.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #162: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records, 8.4., 22:00; # 163: 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba