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unerhört!-Festival 2024
Nach der grossartigen Ausgabe des letzten Jahres (Borderlands Trio, Myra Melford Fire & Water, Craig Taborn, James Brandon Lewis Quartet, Alexander Hawkins Trio, Zeena Parkins usw.) war mir schon im Voraus klar, dass dieses Jahr für mich nicht ganz so viel dabei sein würde. Es gab die üblichen Terminkollisionen (ich verpasste am Freitag zwei Bands, die ich eh schon gehört habe – Marie Krüttli Trio und matter 100 um Kaja Draksler – wegen eines Neue-Musik-Konzertes und am Samstag das erste Set, weil ich noch bei Cecilia Bartoli war – auch den fliegenden Wechsel von der Tonhalle in die Rote Fabrik hatte ich letztes Jahr schon gemacht und war erneut sehr froh, nicht nach dem ersten Teil des Abends nach Hause gegangen zu sein, obwohl das auch vollkommen richtig gewesen wäre). Vermutlich habe ich ein paar starke Sets verpasst, z.B. beide mit Caroline Davis (das erste mit Cansu Tanrikulu, dem Mann des Festivals Elias Stemeseder und Jim Black, das zweite gestern mit Studierenden der Luzerner Hochschule und Christian Weber), Michaël Attias mit dem Matthieu Mazué Trio, Athina Kontou „Mother“, Ulrich Gumpert solo …
Gehört habe ich, allesamt in Zürich (heute gibt’s in Winterthur den Festival-Abschluss mit Rainer Goebbels, aber da bin ich wieder zeitgleich anderswo):
22.11. – Theater Neumarkt
Manuel Troller (g) solo
Tim Berne (as) / Aurora Nealand (acc/cl/voc), Hank Roberts (vc)
26.11. – Helferei
Piano Solo: Alexis Marcelo (p)
27.11. – Helferei
Piano Solo: Myslaure Augustin (prepared p)
27.11. – Rank
Stemeseder Lillinger + Peter Evans (piccolo t/flh) & Joe Sanders (b) (Elias Stemeseder, p/comp; Christian Lillinger, d/comp)
28.11. – Museum Rietberg
Egberto Gismonti (g) / Daniel Murray (g)
30.11. – Rote Fabrik
Joëlle Léandre „Atlantic Ave. Septet“ (Joëlle Léandre, b/comp; Ingrid Laubrock, ts; Steve Swell, tb; Jason Kao Hwang, v; Mat Maneri, vla; Fred Lonberg-Holm, vc; Joe Morris, g)
Anna Webber „Shimmer Wince“ (Anna Webber, ts/fl; Adam O’Farrill, t; Mariel Robert, vc; Elias Stemeseder, synth; Lesley Mok, d)
Den Eröffnungsabend hatte ich ursprünglich auslassen wollen, und ich weiss nicht recht, ob ich nicht besser dabei geblieben wäre. Los ging es allerdings mit einem ziemlich atmosphärischen Solo-Set von Manuel Troller, der an einer eingesteckten akustischen und einer solid body elektrischen Gitarre mit einigen Pedalen, Loops, Delays usw. weite Bögen spann, die auch mal ein wenig an Pat Metheny erinnerten: klanglich reich, schwebend, warm … aber auch oft mit insistierenden, sehr exakten und endlos repetitiven Patterns arbeiteten. Das zweite Set kam wie mich dünkte beim Publikum besser an als bei mir. Die Musik des Trios Tim Berne / Aurora Nealand / Hank Roberts sei „halt eine Klangmauer“ gewesen, liess ich mir ein paar Tage später sagen, aber so kam es mir gar nicht vor. Roberts sass links, Nealand rechts auf der Bühne, Berne stand in der Mitte. Es ging direkt und laut los – und dann passierte: eigentlich nichts. Es blieb laut, es gab viele Töne, aber kaum Entwicklung, und vor allem dünkte mich, dass die rhythmische Dimension in der Musik dieses Trios vollkommen fehlte: Wie eine Stunde an Ort treten fühlte sich das an, mit Ohfreigen-Einlagen, wenn Berne und Nealand an Sax und Klarinette sehr hohe, sehr dissonante Töne sehr laut sehr lang hielten – bis es effektiv schmerzte (warum Leute zu Jazzkonzerten gehen und sich dann Plastik in die Ohren stopfen wollen, habe ich auch noch nie begriffen, denen tat es dann vermutlich immerhin nicht weh?). Nun ja, ich hatte von diesem Trio einen Live-Mitschnitt aus NYC (irgendwann 2023) angehört, den ich recht stimmig fand, viel weniger krawallig, melodischer, allmählich sich entwickelnd … und mich im Nachhinein gefragt, ob das nur ein falscher Eindruck war, weil ich das Set nicht in ohrenbetäubender Lautstärke angehört hatte? Ein schwieriger Einstieg, nach dem ich ziemlich konsterniert durch den den Matsch nach dem ersten Schnee des Jahres nach Hause stapfte.
Weiter ging es dann Dienstag und Mittwoch um 18 Uhr in der Helferei, bei der längst zur Tradition gewordenen Piano-Solo-Reihe (das dritte Konzert, Ulrich Gumpert am Donnerstag, liess ich weg, weil mir der Wechsel von da zu Gismonti zu stressig gewesen wäre – je nach Dauer des Sets hätte es auch gar nicht rechtzeitig gereicht, und mit dem Gismonti-Ticket durfte man ins exklusiv abends nochmal geöffnete Museum, was ich dann auch tat – als Ausstellung ist die aktuelle Benin-Schau mässig ergiebig, aber als Dokumentation und historische Einordnung umso besser). Alexis Marcelo spielte ein langes Set voller wuchtiger, rollender Grooves und rasender alles verschlingender Läufe, eingebettet in mitreissende, oft afrokubanische Rhythmen. Ein atemberaubendes, etwas übermässig dichtes Set, dem die eine oder andere langsamere Nummer (es gab eine halbe solche) gut angestanden hätte, in dem aber auch seine Wurzeln in der Musik seines einstigen Mentors Yusef Lateef zum Vorschein kamen. Als er eine Gnawa-Nummer spielte, schien Randy Weston ihm über die Schulter zu blicken.
Beim zweiten Set von Myslaure Augustin hatte ich aufgrund des hier nachzuhörenden Sets ihres Auftrittes beim letztjährigen unerhört!-Festival recht grosse Erwartungen. Es stellte sich allerdings schnell heraus, dass ihr Solo-Programm mit präpariertem Klavier sehr anders funktioniert, als das freie Duo mit Drummer letztes Jahr (das ich auch nur vom Mitschnitt kannte – wie dieses Jahr an genau dem Abend mit Mazué/Attias und Kontou, deren Sets zwischen Augustin Solo und Stemeseder Lillinger mit Black und Sanders an einer anderen Location stattfanden, war mir da auch letztes Jahr der Wechsel zu stressig … das ist leider echt nicht gut durchdacht, die würden besser maximal zwei Locations pro Abend bespielen, dafür besser mehr Abende mit nicht bloss einem Konzert anbieten). Augustin spielte minimalistische kleine Figuren und Riffs, repetierte, variierte, vermischte Lagen, die nicht präpariert waren mit welchen, die es waren, schloss auch mal den Deckel, um sich vornübergebeugt stehend ganz dem Innern des Instruments zu widmen – das war auch alles sehr schön anzuhören, aber mir fehlten etwas die grösseren Bögen; zugespitzt gesagt waren das 50 Minuten aus aufgereihten schönen Einzelmomenten, was mich dann auf Dauer nicht ganz überzeugte.
Danach ging es weiter in den Rank (bzw. „Am Rank“, wie das Lokal eigentlich heisst, Rank heisst die weniger als 50 Meter lange Gasse, die vom Limmatquai zur Niederdorfstrasse führt, direkt auf das Lokal zu), wo ich zusammen mit einer Freundin zum ersten Mal die Spezialität des Ladens genoss: ein Dreigang-Menu mit nachfolgendem Konzert. Das Essen war ausgezeichnet, das Konzert danach auch. Stemeseder Lillinger hatten schon am Vorabend mit der Akkordeonistin Tizia Zimmermann ein elektrische Set gespielt, für den zweiten Abend wählte Stemeseder den Flügel, die Gäste waren Peter Evans und Joe Sanders. Sanders Kontrabass bewegte sich mühelos zwischen den Co-Leadern hin und her, die ihre vertrackten Stücke dabei hatten. Für Evans war das natürlich gar kein Problem, er wechselte zwischen seiner kleinen Piccolo-Trompete und einem ziemlich rund und weich klingenden Flügelhorn, die „normale“ Trompete hatte er nicht dabei. Mir gefiel die Spielhaltung der vier sehr gut, das war auf den Punkt aber auch verspielt, ziemlich locker. Dass Lillinger so eine Show abzieht beim Spielen war mir überhaupt nicht mehr präsent (was noch fehlt ist Stock hochwerfen, Tolle richten, Stock wieder auffangen – aber dafür ist die Decke im Rank zu niedrig), aber da wirkte alles total organisch, grad so wie das ganze Quartett. Alles in ständiger Bewegung – auch der Bass keineswegs verlässlicher Anker oder Ruhepol oder wie man das gerne mal nennt … das floss ständig weiter, dabei oft höllisch groovend und swingend, trotz all der Zickigkeiten, aus denen sich ständig weiter verdichtende Klaviersoli herausschälten, über denen Evans abhob, bloss um im nächsten Moment wieder Teil des Gruppen-Grooves zu werden. Diese ständige Bewegung in der Rollenverteilung und im Bandgefüge trugen sehr zum Erfolg bei. Ein mitreisendes Set, das für mich zum ersten Höhepunkt des Festivals wurde.
Egberto Gismonti war solo angekündigt – er komme „mit Back-Up“ hatte ich mir sagen lassen, doch so kam es mir gar nicht vor. Der zweite Gitarrist war Daniel Murray, der auf Gismontis Carmo-Label (bei ECM) auch schon ein Solo-Album herausgebracht hat, das der Musik Gismontis gewidmet ist (wobei er vornehmlich Stücke spielt, die nicht für Solo-Gitarre geschrieben wurden). Das Duo wirkte telepathisch sicher, egal ob im rasanten Unisono oder im blitzschnellen Dialog. Nachdem die beiden mit einigem Schalk den Rahmen abgesteckt hatten (es gab einen Moment, der nur knapp an „Duelling Banjos“ vorbeischrammte), wurde die Musik offener. Gismonti klang weniger kompakt, dafür unberechenbarer, spontaner, wie er an seiner recht flachen 12-saitigen Gitarre oft simultan Töne mit Fingern der linken Hand auf dem Griffbrett erzeugte, während die rechte Hand in die Saiten griff (die von den restlichen Fingern der linken Hand gedrückt wurden – wie man sowas lernen kann, werde ich wohl nie verstehen können), war immer wieder beeindruckend. Murray spielte eine „normale“ 6-saitige Gitarre, soweit ich das sehen konnte, er klang runder, voller, auch etwas druckvoller, woraus sich auch schöne Kontraste ergaben. Das Material stammte wohl zum grossen Teil von Gismonti, aber ich bin damit leider nicht vertraut genug, um Stücke erkannt zu haben. In der zweiten Hälfte gab es je ein Solo, bevor die zwei das letzte Stück wieder gemeinsam spielten – da waren die angekündigten 50 Minuten längst um, und eine Zugabe folgte auch noch. Schön!
Gestern dann der Schlussabend – fliegender Wechsel nach einer unfassbar tollen, betörend schönen aber auch abgründigen Geisterbahnfahrt mit Cecilia Bartolis Produktion von Glucks „Orfeo ed Eurydice“ in der Tonhalle. Danach aufs Rad raus in die Kälte, durch die Nacht gerast, den Kopf gelüftet … und rechtzeitig fürs zweite und dritte Set in der Roten Fabrik. Bevor das Joëlle Léandre „Atlantic Ave. Septet“ spielte, kam Léandre allein auf die Bühne, um ein paar Minuten über ihre verstorbene Freundin und Mitstreiterin zu reden, die auch ein grosses Vorbild war: Irène Schweizer. Nachdem sie Englisch angefangen hatte, rief jemand aus dem Publikum, sie solle doch Französisch sprechen, was sie dann auch tat und in warmen Worten über Schweizer und ihre Pionierrolle in ganz Europa sprach, wie sie mit ihr und Maggie Nicols zum Trio Les Diaboliques fand, wie der Free Jazz damals eine absoute Machowelt gewesen sei – und wie sich das nur ein ganz klein wenig verbessert habe seither. Als Free Jazz hätte ich das folgende Set dann aber gar nicht unbedingt bezeichnen wollen, eher als ein ziemlich europäisch wirkendes Set, in dem notiertes Material (alle hatten riesige Bögen aus aneinandergeklebten Notenblättern, handgeschrieben soweit ich sehen konnte) mit freien Passagen zu einem durchgehenden Set verwoben wurden. Den Einstieg machten Worte, die Léandre und ein paar andere vor sich hin brummten und murmelten, was wie ein Aufwärmen oder Stimmen wirkte, war dann natürlich auch schon Teil der Performance. Im Halbkreis auf der Bühne sassen links Swell und Laubrock, daneben der Reihe nach Morris, Hwang, Maneri und Lonberg-Holm, vorne rechts, vor meiner Nase (Lonberg-Holm verdeckend) schloss Léandre den Bogen. Nach einer Viertelstunde fand ich in mehreren Wellen immer tiefer rein, fand Gefallen daran, dass ständig neue Konstellationen zu hören waren, als erstes Highlight ein längere Tenorsax/Kontrabass-Duo und später allerlei weitere Duos und Trios, Quartette und Quintette, selten auch längeren Solo-Passagen, sehr schön eine von Maneri mit seiner mikrotonalen Spielweise. Alles in allem wirkte das Set aber auch etwas brav, etwas absehbar. Dass vor allem Swell und Maneri auch mal etwas dominanter auftraten, führte zumindest zwischendurch zu kleinen Aufrauhungen, von denen es durchaus mehr vertragen hätte. Andererseits gab es auch immer wieder Tutti-Passagen, die fast schon choralartig wirkten, wunderschön gesetzt, mit aller Zeit der Welt (darin ein grosses Kontrastprogramm zu Marcelos Solo-Set). Laubrock fand sich in dem Rahmen ebenfalls hervorragend zurecht und hatte immer wieder starke Momente, wie auch die Leaderin. Hwang und Lonberg-Holm blieben etwas fahler fand ich, und Morris verstand ich überhaupt nicht. Der spielte klangschöne Töne oder Melodien, gefühlt einen halben Akkord im ganzen Set – und keinerlei Impulse. Er ging irgendwie mit, stieg schon mal in kleinen Konstellationen mit ein, machte zum Beispiel ein tolles Bläser-Duo irgendwann zum Trio … aber es bleibt dabei, dass ich nicht verstehe, was er als Gitarrist macht.
Das letzte Set war dann tatsächlich das erhoffte zweite Festival-Highlight. Anna Webber „Shimmer Wince“ spielte mehrheitlich Musik vom ersten Album, das vor ca. einem Jahr bei Intakt erschienen ist. Dazu kam ein ganz neues Stück, das am Vorabend (in Köln glaub ich – war @nicht_vom_forum dabei?) erstmals aufgeführt worden sei. Ich fand es total faszinierend, die auf CD doch etwas aufgeräumt wirkende Musik live zu hören, mit der ganzen Power, die zwischen Stemeseders funky Sound und dem federleichten Schlagzeug von Mok entsteht. Das Cello war anfangs schlecht zu hören: bis Roberts irgendwann zum Mischpult guckte, auf ihr Instrument und dann nach oben zeigte. Webber und O’Farrill gelingen in diesem Setting ein ums andere Mal klischeefreie Improvisationen, in denen die Eigenwilligkeit der reinen Stimmung, die diese Band einsetzt, durchaus zu hören war: da fehlen die sonst so typischen Mikrotöne, es gibt keine Blue Notes, keine verschmierten half valve-Töne von der Trompete sondern eigenwillige, Soli, die sehr mitreissend waren und überraschend blieben. Dass darunter eine wahre Groove-Maschine ins Laufen kam – die von den Sounds her durchaus auch mal an die Bands von Miles Davis in den Siebzigern erinnerten – machte die Band live zum Erlebnis. Da gibt es auch mal einen packenden 5/4. Wenn die Grooves vielleicht mal wie das Kontrastprogramm zu aufgeräumten Flöten- oder Tenorsax-Riffs wirkte, dann trog der Eindruck immer wieder schnell, wenn Webber oder O’Farrill erst mal in Fahrt kamen und von den Riffs weg in immer schnellere, dichtere Improvisationen fanden. Der Mix aus den feinen und bei aller Präzision frei klingenden Grooves und den ebenso präzise wie frei wirkenden Improvisationen macht aus diesem Quintett eine für meine Ohren vollkommen unvergleichbare Band – und live fand ich das alles nochmal ein ganzes Stück toller als auf dem Album.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 (Teil 1) - 19.12.2024 – 20:00; #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba