Antwort auf: 2022 & 2023 & 2024: jazzgigs, -konzerte, -festivals

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Stanser Musiktage 2024

Vorweg: ich war zum ersten Mal bei den Stanser Musiktagen, das für die Locals ein grosses Volksfest ist: abends wird die mitten durchs Dorf führende Hauptstrasse gesperrt, die Menschen stehen vor Foodtrucks Schlange und sitzen und stehen essend und trinkend auf dem Dorfplatz herum, derweil dort auf einer Bühne folkige oder folk-rockige Töne zu hören sind, auch mal in Mundart. Dazu werden an diversen Locations leider oft parallel oder sich überlappend Konzerte angeboten. An meinem ersten Tag z.B., an dem ich um 20 Uhr ein einstündiges Set von The Necks hörte, trat um 19 Uhr auch Eric Mingus auf, den ich sehr gerne hören gegangen wäre, wenn The Necks denn erst um 21 Uhr gespielt hätten … und um 20:30 zu Sofía Rei ging natürlich auch nicht, nicht mal das letzte, um 21 Uhr beginnende Konzert hätte ich noch geschafft (BCUC aus Südafrika). Am zweiten Abend gab’s für mich wirklich nur Dave Holland, aber dessen Trio spielte ein eineinhalbstündiges Set, nachdem ich eh vollkommen gesättigt und glücklich war.

Lucerne Improvisers Orchestra: «Sound Relations»
11.04.2024 / 17.30 Uhr – Nidwaldner Museum Winkelriedhaus

Alsu Nigmatullina (voc), Karolina Ramonė (voc), Kristjan Kannukene (vla, voc), Adélaïde Gruffel (d, voc), Catarina Marques (vla), Teresa Soares (vc), Elide Sulsenti (vc), Ksenija Franeta (fl), Artiom Zalizko (as), Deividas Skridaila (elb), Martynas Stoškus (d), Paula Bagotyriūtė (keys), Ana Velinovska (keys), Arnas Mikalkėnas (d, dir), Liudas Mockūnas (ts, ss, dir), Magda Mayas (keys, dir), Charlotte Hug (vla, dir)

Mein Einstieg ins Festival war eine etwas mehr als halbstündige Performance im Pavillon des Nidwaldner Museums im Winkelriedhaus. Studierende aus Luzern und Vilnius kamen unter der Leitung von Charlotte Hug und Magda Mayas bzw. Arnas Mikalkenas und Liudas Mockunas bzw. fanden sich allmählich von draussen hereinkommend im Kreis ein, um den das Publikum sich setzen konnte (manche gefährlich nah an den sich bewegenden Kunstwerten von Roland Heini, die ich leider nicht auch noch in Ruhe anschauen ging). Das hätte das Zeug dazu gehabt, eine zurückhaltende, zäh-langweilige Performance zu werden, aber auch weil Mockunas (den ich noch nie live gehört hatte und nur ganz schlecht kenne) keinen Bock auf sowas hatte und und einiges an Krawallcharakter einbrachte – was andere gerne, wenngleich etwas behutsamer zu übernehmen schienen – wurde das ziemlich abwechslungsreich. Auch an den diversen Synthesizern und Drumkits ging es ab und zu ordentlich zur Sache, ein Auf- und Abebben, das von den Leitenden manchmal mit Handzeichen (die ich nicht verstand, man hatte wohl ein paar Absprachen getroffen im Voraus) ein wenig gelenkt wurden. Nach dem Start, bei dem alle, die ihre Instrumente tragen konnten, diese spielend hereingetreten sind, sassen erstmal alle auf ihren Plätzen, aber irgendwann begannen die mit tragbaren Instrumenten auch wieder, im Raum zu zirkulieren. Ein ganz schöner Einstieg, fand ich.

Hier findet sich ein Video, das einen Einblick in die Ausstellung gewährt:
https://arttv.ch/kunst/retrospektive-und-neue-arbeiten-von-roland-heini/

The Necks
11.04.2024, 20:00 – Theater an der Mürg

Chris Abrahams (p), Lloyd Swanton (b), Tony Buck (d)

Um acht Uhr dann der Hauptact, der Grund, warum ich überhaupt auf das Festival aufmerksam wurde (dank euch hier im Forum): The Necks. Ich hörte sie zum dritten Mal. Das erste Konzert war 2001 beim Taktlos Festival in Zürich ein prägendes relativ frühes Live Jazz Erlebnis, eine zweite Begegnung beim Météo Festival in Mulhouse im Sommer 2017 fand ich etwas weniger überzeugend.

Dieses dritte Konzert war ganz anders – zumindest in meiner Wahrnehmung und Erinnerung. Abrahams begann solo, zunächst mit einer Melodie – fast kitschig! – in der linken Hand, dann die rechte dazunehmend. Buck und Swanton stiessen dazu, es blieb melodiös, die Phrase oder Melodie eine Spur (aber nicht viel mehr) zu lang für die minimalistischen Kürzel, mit denen das Trio meist operiert. Der Einstieg wirkte demnach dann eher frei als durch Motive und Rhythmen klar strukturiert – doch dahin fanden die drei dann doch recht schnell, der freie und durchaus melodische Geist blieb aber hängen, es gab später Momente, die sich fast wie ein Bass-Solo anfühlten, Buck spielte im letzten Dritten oder so eine Art Solo, bei dem die anderen halt einfach nicht mitzuspielen anfingen.

Die Dynamik, die das Trio ins Rollen brachte, war einmal mehr gewaltig. Was leise, fast zart und eben: nahezu kitschig, begann, entwickelte einen Sog und wurde immer wuchtiger, mitreissender. Es gab dabei Momente, in denen die drei sechs oder sieben oder acht Rhythmen übereinander stapelten: zwei vom Bass, zwei vom Piano und mehrere vom Schlagzeug: Bucks irre virtuose Bedienung der Bass-Drum allein konnte schon en Eindruck erwecken, dass da zwei Beats parallel liefen! Abrahms begann, immer dichtere Arpeggien zu spielen, aus denen oft Cluster, wurden, rasende Hände über der Tastatur, zu hören nur noch wabernde Klangungetüme, Wellen, die nie brachen sondern über Minuten und Minuten einfach weiterrollten, grollten, brummten, irgendwann auch in die Höhe schnellten, den fast schmerzhaft im Diskant weiter liefen.

Buck hatte dann nach einer Dreiviertelstunde oder so Lust drauf, Tony Buck’s Free Bolero zu spielen aber befreite sich auch draus wieder, bevor’s albern geworden wäre. Irgendwie fanden die drei dann nach 58 Minuten oder so zu einem Schluss, der etwas ausfranste, nicht auf den Punkt gelang sondern wie ein rasches Herunterfahren wirkte, ein Abbremsen und Anhalten, in das dann noch ein letzter Klavierton, ein Becken nachklang. Unendlich faszinierend und vollkommen erschlagend. Glücklich in die Nacht hinaus, nicht unglücklich, mit gar niemanden über das Erlebte reden zu müssen sondern einfach einen nachdenklichen Abend zu verbringen, das Gehörte bei einem Bier allmählich einsickern zu lassen.

Leider war das Theater, das um die 300 Plätze hat, bei The Necks nicht ganz voll, der Balkon, auf dem ich beide Male in der ersten Reihe sass (perfekt, fand ich) sogar ziemlich leer. Das war am nächsten Abend dann zum Glück anders.

Dave Holland Trio
11.04.2024, 20:00 – Theater an der Mürg

Jaleel Shaw (as), Dave Holland (b), Eric Harland (d)

24 Stunden später am selben Ort, dieses Mal randvoll und die Erwartungen förmlich im Raum zu greifen. Holland wandte sich nach der Ansage des Veranstalters auch schnell ans Publikum und meinte, sie hätten hinter der Bühne die Energie aus dem Saal schon gespürt. Er sagte auch sowas wie, sie drei hätten sich entschieden als Trio zu touren (Eubanks erwähnte er nicht) und hätten auf der Bühne eine „pretty collective situation“ oder so ähnlich, das gespielte Material stamme zudem von ihnen allen. Dann ging es los, 90 Minuten mit nur drei oder vier Unterbrüchen, am Ende noch eine Zugabe. Ein beeindruckendes Set, in dem alle drei viel Raum erhielten, die hohe Kunst des Interplays demonstrierten, stets zu wissen schienen, welche Angebote der anderen sie aufgreifen, welche verpuffen lassen. Auch hier Verdichtungen bis hin zum Atemberaubenden, die oft auf das Konto von Jaleel Shaw (*1978) gingen. Ich kann nicht sagen, dass ich ihn zu greifen kriege, verstehe, woher er in musikalischer Hinsicht kommt. Wichtige Stationen waren Roy Haynes und die Mingus Big Band (mit der ich ihn 2004 hörte und schon damals toll fand), mit Holland spielt er im New Quartet, zu dem auch Kris Davis und Marcus Gilmore Nasheet Waits gehören – und das ich ebenfalls wahnsinnig gerne live hören würde.

Holland live – das war ja auch das erste Mal, und dafür war dieses Line-Up für mich bestimmt perfekt. Klar hätte ich auch gerne das Trio mit Kevin Eubanks gehört, den ich auch noch nie live erlebt habe … aber so ein klassisches Sax-Trio ist halt eine Lieblingsbesetzung und drum war das wirklich ein Traum. Holland selbst spielte einen dieser etwas kleineren Reise-Bässe, wie ich ihn vor Jahren mehrmals Stephan Crump spielen hörte (mit dem Vijay Iver Trio oder im Duo mit Mary Halvorson und vielleicht noch anderswo?), doch klanglich schien das keine Einbussen mit sich zu bringen, das Instrument klang unglaublich warm, der Ton wahnsinnig schön, die Melodien, die auch in der Begleitung oft entstanden, ebenso betörend. Das lange Warten (und vermutlich auch der Verzicht darauf, das Quintett mit Chris Potter, Robin Eubanks usw. zu hören, was ich hier in Zürich in den Nullern ein oder zweimal hätte tun können) hat sich jedenfalls gelohnt.

Es gab ein paar Holland-Klassiker, glaube ich (keine Ansagen ausser nochmal rasch die Namen der Sidemen am Ende), manche der Stücke waren folksy, irgendwo zwischen Charlie Haden und Ornette Coleman, aber was sag ich: Dave Holland halt. Harland hatte viel Spass daran, laszive kreisende Grooves zu spielen, klang auch unglaublich gut (und obwohl es das gleiche Kit war wie bei Buck sehr anders als dieser – die Becken hatten sie wohl beide selbst mitgebracht, Harland ein paar mehr davon und auch ein zweites Tom über der Bass-Drum). Die meist fliessenden Überleitungen zwischen den Stücken wurden auch mal als längere Soli gestaltet und das erste solche von Harland war ein minimalistischer Höhepunkt: er spielte seinen Beat vom Stück davor weiter, sparte immer mehr aus, wurde immer karger, bis er fast nur noch den Grund-Beat schlug … das alles zerdehnt über einen Zeitraum, der einem in so einem Rahmen fast wie eine Ewigkeit scheinen musste. Holland scheint ihn sehr zu mögen, überhaupt wirkten die drei auf der Bühne wie Freunde, die einander – und sich als Gruppe – jeden Erfolg gönnten. Diesen Erfolg suchte besonders Shaw durchaus auch in wilden Solo-Flügen, die manchmal eine Coltrane’sche Energie transportierten, ein Festhaken in Phrasen, ein Drehen und Wenden, oder auch ein irres Spiel mit ständig erweiterten Arpeggien – dabei nie die Erdung missend, für die natürlich auch Holland mit seinem unglaublich warmen Bass immer wieder zur Stelle war. Ein phantastisches Konzert!

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba