Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

#12271287  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 67,163

Zürich, Tonhalle – 07.03.2024

Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi
Music Director
Giulia Semenzato Sopran
Rodion Pogossov Bariton
Iveta Apkalna Orgel
Zürcher Sing-Akademie
Florian Helgath
Einstudierung

GABRIEL FAURÉ: «Super flumina Babylonis» (Psalm 136)
FRANCIS POULENC: Poulenc Orgelkonzert g-Moll
E: CHARLES-MARIE WIDOR: Toccata (aus 5. Orgelsinfonie Nr. 5)

GABRIEL FAURÉ: Requiem op. 48 für Solisten, Chor, Orgel und Orchester

Ich glaube nicht, dass ich Järvi in der Tonhalle (oder überhaupt?) schon mit französischer Musik gehört habe … kurz: es war grandios, ganz besonders das Requiem. Aufschlussreich war in der Hinsicht auch das Vorgespräch mit Florian Helgath, der von der Probearbeit berichtete und sagte, dass Järvi am Vorabend bei der ersten Aufführung im Konzert Dinge gemacht habe, die sie nie so geprobt hätten. Bekannt ist das ja, dass Järvi aus dem Moment hinaus Entscheidungen trifft, dass er ein fast schon kammermusikalisches Spielverständnis pflegt, von den Mitwirkenden stets vollste Aufmerksamkeit verlangend. Das Vorgespräch wurde musikalisch umrahmt, es gab noch etwas mehr Poulenc – vor allem die von Riccardo Acciarino sehr persönlich interpretierte Klarinettensonate war toll.

FRANCIS POULENC: Sonate für Klarinette und Klavier
Riccardo Acciarino Klarinette / Or Re’em Klavier
FRANCIS POULENC: Métamorphoses für Sopran und Klavier
Giulia Guarneri-Giovanelli Sopran / Daniela Baumann Klavier

Die Psalmenvertonung von Fauré zum Einstieg war ziemlich toll – ein selten gespieltes Frühwerk, das spätromantische Einflüsse (Brahms, Berlioz) aufweist, recht üppig also und damit eine gute Einstimmung auf das überbordende Orgelkonzert von Poulenc, das mir endlich die Gelegenheit bot, die neue Orgel der Tonhalle in voller Aktion zu hören – sehr beeindruckend! Wie fein die Orgel auf den Saal abgestimmt ist, ihn füllt ohne zu überborden, war wirklich toll zu hören. Apkalna überzeugte in jeder Hinsicht, spielte dann eine überbordende Zugabe von Widor.

Nach der Pause dann das Requiem von Fauré. Gänsehaut fast von Anfang bis Ende, der Chor war grandios, noch in den zartesten Pianissimi klangen die 14 oder 15 Sopranstimmen wie aus einem Guss. Ich weiss gar nicht, ob ich dieses Requiem schon einmal gehört habe – jedenfalls war das wahnsinnig beindruckend: Chor, Orchester, Solistin und Solist (an der Orgel sass dafür Tobias Frankenreiter).

Zürich, Tonhalle – Neue Konzertreihe Zürich – 11.03.2024

Bruce Liu Klavier

JEAN-PHILIPPE RAMEAU: Le tendres plaints, Les cyclopes, Menuet, 2me Menuet, Les Sauvagas, La Poule, Gavotte et six doubles
FRÉDÉRIC CHOPIN: Variationen «Là ci darem la mano» aus Mozarts «Don Giovanni» op. 2

MAURICE RAVEL: Miroirs
FRANZ LISZT: Réminiscences de Don Juan

E:
BACH/SILOTI: Präludium e-Moll BWV 855a aus WTK Band 1
CHOPIN: Walzer Des-Dur op. 64/1 «Minutenwalzer»

Montagabend war ich im Rahmen meines Abos der Neuen Konzertreihe beim Rezital von Bruce Liu – ein Konzert, das ist sonst definitiv nicht gehört hätte … und auch nicht wirklich viel verpasst hätte, glaub ich. Das Programm mit dem doppelten „Don Giovanni“-Zitat war eine Runde Sache, aber grad die zwei Stücke überzeugten mich nicht so recht, was aber gar nicht viel mit Liu zu tun hat, der ständig verzögerte Klimax bei Liszt – nach vier Minuten oder so geht es noch zweimal solang, bis es endlich zum Abschluss kommt, da wird aufgetürmt, dass es nur noch albern ist – aber klar, das tut beim Publikum seine Wirkung (für stehende Ovationen reichte es dann aber doch nicht). Die Rameau-Stücke waren, solange sie leise und lyrisch blieben – enorm fein phrasiert, minimaler Pedaleinsatz – wahnsinnig schön, aber in den lautmalerischen („Les Sauvages“, „La Poule“) kam der grosse Flügel natürlich an sein Limit bzw. überrollte, plättete die Musik von Rameau völlig. Den Ravel fand ich dann wiederum auch sehr gut.

Ein paar Worte nur zu „Amerika“, das ich gestern zum zweiten Mal gesehen habe (09.03.2024 und 15.03.2024)

Und dann noch schnell zu „Amerika“, das ich gestern zum zweiten Mal sah: Ganz toll! Die Inszenierung ist wohl einigermassen gelungen, die Bühne jedenfalls sehr schön (die, das Licht usw. sollen gemäss Haubenstocks Anweisungen ein Eigenleben haben), dann wurde die Rolle der Pantomime weit ausgebaut, eine zwölfköpfige moderne Tanztruppe (kein Ballet, keine Normkörper, ein japanischer Choreograph namens Takao Baba leitet die Truppe und war für die Choreographie zuständig) spielt quasi eine stumme Hauptrolle, ist immer wieder präsent, bildet auch Aspekte aus Kafkas Geschichte ab, die im Libretto nur angedeutet werden oder fehlen. Der Text ist im Libretto (von Haubenstock) so verknappt, dass manches kaum verständlich wird. Das steigert natürlich den klaustrophobischen, schicksalhaften Aspekt (oder: das „Kafkaeske“). Wenn ich zur Inszenierung sage „einigermassen“, dann beziehen sich die Fragezeichen wieder auf den Klamauk-Aspekt, der v.a. beim „Naturtheater von Oklahoma“, also am Ende, etwas zu dominant werden, fand ich. Das Stück ist aber wahnsinnig toll, die Vermählung von Musik, Bühne, Licht usw. (vieles davon ist recht präzise beschrieben im Libretto, das ich vor dem zweiten Besuch durchgelesen habe in der Fassung aus dem Programmheft). Rein musikalisch fand ich es auch sehr toll: das Zusammenspiel der zugespielten Orchester (eins oder zwei, bei einer Passage drei, die Aufnahmen entstanden wohl seit 2020, als die Aufführung eigentlich hätte stattfinden sollen, aufs Kafka-Jahr-Gedöns wollte man nicht aufspringen), die im Raum verteilt werden, sich bewegen. Auch Stimmen kommen so dazu, dafür wurden die von der letzten Aufführung (der insgesamt dritten) von 2004 in Bielefeld übernommen und neu bearbeitet. Gestern konnte ich im 2. Rand in die erste Reihe vorrücken – solche Aufführungen sind ja selten ausverkauft), sass dort ganz vorn und guckte immer wieder mit meinem kleinen operntauglichen Feldstecher auf die Partitur – und die sieht echt irre toll aus, ein Kunstwerk für sich!

Amerika
Oper in zwei Teilen von Roman Haubenstock-Ramati (1919-1994)
nach dem gleichnamigen Roman von Franz Kafka; Libretto von Roman Haubenstock-Ramati

Musikalische Leitung Gabriel Feltz
Inszenierung Sebastian Baumgarten
Ausstattung Christina Schmitt
Choreografie Takao Baba
Lichtgestaltung Elfried Roller
Video Robi Voigt
Klangregie Oleg Surgutschow
Sounddesign Raphael Paciorek
Dramaturgie Claus Spahn

Karl Roßmann Paul Curievici
Heizer, Pollunder, Robinson, erster Landstreicher Robert Pomakov
Der Oberkellner, Delamarche, zweiter Landstreicher, Der Personalchef des grossen Naturtheaters Georg Festl
Klara, Therese Mojca Erdmann
Onkel Jakob, Der Oberportier, Der Direktor des grossen Naturtheaters Ruben Drole
Brunelda Allison Cook
Die Oberköchin Irène Friedli
Sprecher 1, Der Student, Erster Schreiber, Gerichtsagent Benjamin Mathis
Sprecher 2, Zweiter Schreiber, Wahlkandidat Sebastian Zuber
TänzerInnen Solomon Quaynoo, Pouria Abbasi, Yvonne Barthel, Natalie Bury, Kemal Dempster, Theodor Diedenhofen, Steven Forster, Evelyn Angela Gugolz, Michaela Kvet, Elisa Pinos Serrano, Anna Virkkunen, Oriana Zeoli

Philharmonia Zürich

Die Orchestereinspielungen aus dem Zuschauerraum (ein oder zwei Orchester, an einer Stelle sogar drei) fertigte die Oper Zürich selbst an, für die Sprechchöre wurde die Aufnahme wiederverwendet (und neu bearbeitet), die 2004 für das Theater Bielefeld gemacht wurden (Vokalensemble NOVA/Colin Mason). Die Aufführung in Bielefeld war die dritte und erste mit halbwegs modernen Mitteln, die zweite gab’s 1992 in Salzburg noch mit der Mitwirkung von Haubenstock – im Gegensatz zur Uraufführung 1966 ein Erfolg. Die aktuelle in Zürich ist die vierte.

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba