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@yaiza Merci, ich weiss wegen Mallwitz noch nicht – ev. komme ich erst an dem Tag aus den Ferien heim (die Wohnung, die ich gemietet habe, war mit der Extra-Nacht billiger, als wenn ich eine Nacht weniger gebucht hätte, drum lass ich es noch offen) und würde v.a. wegen Kuusisto hingehen. Da Järvi aber demnächst seinen Mahler-Zyklus in der Tonhalle startet, ich dort gerade Mahler unter Nagano hörte und in Basel auch demnächst in einer Version für Kammerorchester, wäre das vielleicht im Vergleich ganz interessant.
Das Streichquartett Nr. 5 von Gouvy kenne ich noch nicht (die anderen erst recht nicht) – aber es ist auf diesem Komponisten-Portrait von Bru Zane zu finden (gibt’s beim Vertrieb, drum hab ich das Label – die Label? hiess mal „ediciones singulares“, aber ich glaub Bru Zane war immer der „Schirm“, die Stiftung dahinter, die auch anderswo die Finger im Spiel hat – auf dem Schirm):
https://bru-zane.com/en/pubblicazione/cantate-oeuvres-symphoniques-et-musique-de-chambre/
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Sonntag war in Genf an der vierten und letzten Aufführung von „Justice“ – Musik von Héctor Parra, Idee/Szenario/Regie von Milo Rau, Drehbuch von Fiston Mwanza Mujila. Ein erschütterndes Stück Polit-Theater, das aber nur deshalb so gut war, weil die Brücke zur Oper dank Parras Musik ganz hervorragend gelungen ist. Eingebunden wurden diverse Musikstücke aus dem Kongo und Sambia – der Unfall, auf den das Stück sich bezieht, geschah in Katanga im Süden, nah an der Grenze – und Parra hat dazu im Programmheft einen sehr langen Text geschrieben, den ich gelegentlich noch nachlesen möchte. Vorn links auf den beiden Plasticstühlen hatte sich der Gitarrist Kojack Kossakamvwe installiert, der schon bei Saalöffnung dort sass und etwas herumspielte, während das Orchester sich im Graben einrichtete und sich aufwärmte.
Die letzten zehn Minuten vor Beginn gehörten Kossakamvwe dann allein mit seinem irren Gitarrenspiel, das eine Art Update der kongolesischen Popmusik inkl. Rumba-Anklänge bot, während Mujila still gestikulierend mit jemandem auf der Bühne hin und her geht. Mujila leitete dann ein, führte als eine Art Moderator durch den Abend, sprach stets beim Übergang der fünf Akte in einer Art Brechung die Titel. Die Sänger*innen wurden auch kurz vorgestellt – aber nicht etwa ihre Figuren sondern in ganz knapper Form ihre eigenen Biographien erläutert. Mit Willard White in der Rolle des alten Priesters eine Legende dabei, 1946 in Jamaica geboren, von Evelyn Rothwell entdeckt, an der Juilliard ausgebildet, Masterclasses bei Callas … Das dürfte überhaupt so ziemlich der diverseste Cast gewesen sein, der bei einer Opernproduktion hierzulande je zu sehen war. Ähnlich übrigens auch im Saal, wenngleich der der Anteil an Bleichgesichtern und Langnasen bei weitem überwog.
Musikalisch war das ein grosser Synkretismus, der aber in ein Ganzes mündete, das tatsächlich die Haupt-Stärke der Oper auskostete: das Transportieren grosser Gefühle in oft herzzerreissenden Arien, ganz besonders wenn Axelle Fanyo am Zug war, die die Mutter eines der Opfer gab – ihre junge Tochter, die beim Unfall, um den sich alles dreht, starb, tauchte als eine Art Gespenst auch auf. Dieser Unfall geschah 2019 in einem Dorf in der Provinz Katanga, als ein mit Schwefelsäure beladener Tanklaster in einen Markt rast und 21 Menschen teils langsam und qualvoll sterben, währende weitere schwer verletzt werden. Die Säure wird beim Kobaltabbau eingesetzt (auch dabei kommt es zu Unfällen) und dieser Laster war im unterwegs im Auftrag von Glencore, dem Genfer Rohstoffhandel-Riesen, weswegen Genf auch der Ort war, an dem diese Oper aufgeführt werden konnte, musste.
Rau reiste mit seiner Crew an den Ort des Geschehens und Filmaufnahmen – auch von den fürchterlichen Handy-Videos, die von geschockten Zeugen vor Ort gemacht wurden – wurden immer wieder eingebettet. Handlungszeitpunkt ist aber eine kleine Feier fünf Jahre später – also 2024 – bei der die Einweihung einer Schule im Ort gefeiert werden soll. Ein westlicher Manager (Tantsits) und seine Wohltätigkeitsgemahlin (Münch) führen dabei Regie, um sie herum gruppieren sich die anderen: eine Anwältin, zwei Priester, ein paar der Opfer oder Angehörigen, aber auch als eine Art Outcast die Fahrerin des Unglückslasters (natürlich in der Wirklichkeit die einzige Person, die verurteilt wurden – die Opfer bzw. ihre Familien wurden mit wenigen hundert Dollar Blutgeld gekauft, die Mutter erhielt z.B. 250$ für ihre gestorbene Tochter – das muss diese vielbeschworene humanitäre Tradition der Schweiz sein, auch ein stichhaltiges Argument, warum es die Konzernverantwortungsinitiative neulich selbstverständlich abzulehnen galt – stoppt mich, bevor ich irre werde).
Dass Mujila (der seit längerem in Österreich lebt) aus der Gegend stammte, ebenso wie der phantastische Countertenor Serge Kakudji (der bei der Reise natürlich dabei war, es gibt Fotos, wie er am Rand der Glencore-Mine eine seiner Arien singt), war vermutlich kein reiner Zufall sondern Arbeit derjenigen, die sich um das Casting kümmerten (Rau ist ja am Kongo schon länger dran und dürfte einige hilfreiche Kontakte geknüpft haben).
Die zahlreichen Berichte online und in der gedruckten Presse dünken mich nicht immer ausgewogen: manche lehnen den aktuellen politischen Rahmen ab oder finden, dass die Verbindung mit der Musik nicht gelungen ist, andere konnten wohl die musikalische Ebene nur teils würdigen (die Journos, die eher für Afrika-Berichterstattung zuständig sind und jetzt halt mal in die Oper gingen …) – schwierig, und am Ende wie in den Vorab-Berichten oftmals doch nur Versatzstücke, wie sie im Programmheft dem langen Gespräch mit Rau und Mujila entnommen werden können.
Für mich funktionierte das wie gesagt sehr, sehr gut. Die Musik von Parra schlug Brücken, der Einbezug von Kossakamvwe über die ganzen knapp zwei Stunden hinweg, der Wechsel zwischen Arien und Chor-Partien, die Brechungen durch den gesprochenen Text, die durchaus gelungene Regie, die in vielen kleinen Einfällen und Szenen unsere eigene Lebenswelt immer wieder entlarvte, unsere Floskeln, unser oft unreflektiertes und unwissendes Schlafwandeln – ich war am Ende jedenfalls völlig geplättet. Das Orchestre de la Suisse Romande unter der Leitung von Titus Engel war hervorragend. Die Schlagwerk-Abteilung hatte mit diversen Marimba-, Vibra- und Xylophonen und vielen unterschiedlichen Trommeln viel Arbeit, Blech und Holz ebenfalls prägnante Einsätze, die oft auch mit der Gitarre am Bühnenrand einhergingen. Neutönerisch wirkte das selten, aber auch nie traditionalistisch – im Gegenteil, irgendwie sehr frisch, sehr offen – und eben: mit dem Mut zur grossen Geste, zumindest was die Melodien angeht, die Arien.
Der Cast:
Justice
Opéra de Hèctor Parra
Livret de Fiston Mwanza Mujila d’après un scénario de Milo Rau
Création mondiale / Nouvelle production en coproduction avec le Festival Tangente St. Pölten
Direction musicale Titus Engel
Mise en scène Milo Rau
Scénographie Anton Lukas
Costumes Cedric Mpaka
Lumières Jürgen Kolb
Vidéos Moritz von Dungern
Dramaturgie Clara Pons
Dramaturgie Giacomo Bisordi
Direction des chœurs Mark Biggins
Le directeur Peter Tantsits
La femme du directeur Idunnu Münch
Chauffard Katarina Bradić
Le prêtre Willard White
Le jeune prêtre Simon Shibambu
Le garçon qui a perdu ses jambes Serge Kakudji
Avocate/L’enfant mort Lauren Michelle
Le mère de l’enfant mort Axelle Fanyo
Le librettiste Fiston Mwanza Mujila (Sprechrolle)
Victimmes Joseph Kumbela, Pauline Lau Solo (Sprechrollen)
Chœur du Grand Théâtre de Genève
Orchestre de la Suisse Romande
avec la participation de Kojack Kossakamvwe
Was es mit der seltsamen Blech-Decke im renovierten Grand Théâtre auf sich hat, weiss ich nicht – aber zu diesem Stück passte sie perfekt. Sie ist auch sonst sehr schön, finde ich – die Lichter der Saalbeleuchtung darin sehen aus wie Sterne und wurden dieses Mal quasi schlangenförmig von hinten nach vorn ausgeschaltet vor Beginn der Aufführungen – im Saal war es dann zu dunkel und ich zu sehr mit Applaudieren beschäftigt, als dass ich bessere Fotos geschafft hätte – auf dem unten all die Solist*innen inkl. der beiden „victimes“, oben inkl. Chor, Engel, Mujila, Kossakamvwe. Besucht habe ich die vierte und letzte Vorstellung, Sonntag 28. Januar 2024 um 15 Uhr. Es gab viel und langanhaltenden Applaus.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #156 – Benny Golson (1929–2024) – 29.10.2024 – 22:00 / #157: Benny Golson & Curtis Fuller – 12.11.2024 – 22:00 / #158 – 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba