Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Weill es Sünde ist – Basel, Stadtcasino – 06.01.2024

Kammerorchester Basel
Pierre Bleuse
Leitung
Ute Lemper Chansonnière
Vokalquartett der Basler Madrigalisten (Christian Postuma & Alberto Palacios Guardia, Tenor; Roger Casanova, Bariton; Aram Ohanian, Bass)

RICHARD STRAUSS «Der Bürger als Edelmann» Orchestersuite
KURT WEILL «Die sieben Todsünden», Ballett chanté für Stimme und Kammerorchester in neun Szenen (Text: Bertolt Brecht)

Weimarer Suite
Von Ute Lemper ausgewählte Lieder von Friedrich Hollaender, Kurt Weill, Mischa Spoliansky, Leonello Casucci, Kurt Schwabach, Norbert Schulze, George Gershwin und Victor Ullmann, arr. für Kammerorchester von Konstantin Timokhine

Gestern gab es quasi eine Fortsetzung des Musical-Abends mit „Sweeney Todd“: beim Kammerorchester Basel sang Ute Lemper Weill/Brechts „Sieben Todsünden“ und ihre „Weimarer Suite“. Am ersten Pult sass Dmitry Smirnov, den ich im Mai bei einem tollen Konzert in Basel als Solisten in einem Violinkonzert von Édouard Lalo gehört habe (die CD ist ebenfalls sehr empfehlenswert). Er hatte einiges zu tun, auch im ersten Stück, der etwa halbstündigen Suite, die Richard Strauss aus seiner Bühnenmusik zu Molières „Le Bourgeois gentilhomme“ zusammengestellt hatte. Dabei bediente er sich bei Lully – und stellte musikalisch den ehrgeizigen, unbedarften Emporkömmling dar, der so manchen Fehltritt begeht. So spielen die Musiker*innen falsche Töne oder Passagen, die sich ungewohnt – oder eben: nicht so recht – zusammenfügen. Für meine Ohren erzeugt gerade dieser Witz, die Keckheit, mit der Strauss vorgeht, eine Art Effekt, der so manches hier sehr modern wirken lässt. Ein Vergnügen jedenfalls, das vermutlich im Konzert sehr viel besser funktioniert denn daheim ab Konserve. Am Pult stand übrigens Pierre Bleuse, den ich im Oktober bei der grandiosen Aufführung von Griseys „Espaces acoustiques“ in Paris erstmals live sah.

Danach kurze Pause und dann Auftritt Ute Lemper. Entgegen der einstigen Ankündigung gab es zuerst die Todsünden – womit der erste Teil des Konzertes schon fast eineinhalb Stunden dauerte. Aber was für ein Vergnügen das war! Lemper sang die Figur der Anna, schizophren vielleicht, die Geld verdienen muss, damit ihre Familie in Louisiana sich ein Häuschen bauen kann. Dabei gibt es Anna 1, die den Hauptteil des Textes stemmt, Anna 2, die bei Lemper meist nur gesprochen/gehaucht kleinere Einwürfe zwischen Echo und Korrektiv gibt, dazu die Familie, verkörpert von vier Sängern (zwei Tenöre, ein Bariton und ein Bass), die eine Art Chor bilden, der das Geschehen – das Tun und Lassen von Anna – kommentiert. Dabei ist zwischen Bänkelsang und Choral alles dabei – mit grösster Raffinesse verbunden und an überraschenden Wendungen nicht sparend. Annas Reise durch die grossen Städte dauert sieben Jahre, jeweils ein Jahr pro Todsünde. Und mit diesen hat es einen Dreh, der aktuellen kaum sein könnte: die Todsünde zu begehen hiesse nämlich, dem übergeordneten Ziel des Geldverdienens in den Weg zu kommen – und so kann sich alles ins Gegenteil verkehren. Anna hat also zu tun, was die Leute von ihr verlangen, etwas („ihren kleinen weissen Hintern“ unter anderem) herzuzeigen den Leuten führ ihr Geld. „Stolz ist etwas für die reichen Leute.“ Und Liebe sowieso – aber Anna 2 trifft sich weiter mit Fernando, den sie bezahlt, statt mit Edward, der sie bezahlt. „[Anna 1:] Ach, war das schwierig, alles einzurenken … und die langen Nächte, wo ich meine Schwester weinen hörte und sagen: [Anna 2:] ‚Es ist richtig so, Anna, aber so schwer.'“

Der Text von Brecht und überhaupt das ganze Stück – voller Doppelmoral, Scheinheiligkeit und oft atemberaubenden Zynismus – scheint mir beängstigenderweise in unsere Zeit so gut zu passen, wie in die Entstehungszeit. Diese Brücke schlug Lemper dann auch zum Einstieg in den zweiten Teil, ihre Suite aus Liedern aus der Zeit der Weimarer Republik, zu der noch – nicht im Programm aufgeführt – „Lili Marleen“ kam. Das berührendste der Lieder – das letzte, das ich hörte – stammte aber von 1944, Viktor Ullmanns „Margaritkelech“, in dessen Todesjahr in Terezín komponiert, bevor er nach Auschwitz gekarrt und ermordet wurde. Lemper gestaltete ihren Auftritt mit wenigen Requisiten: ein Schal (den auch Bleuse dann mal umgelegt hatte), ein Zylinder, ein paar Bewegungen (als Anna 2 trat sie einen Schritt nach links und guckte in die Richtung, in der sie gerade als Anna 1 gestanden hatte), ein Barhocker an der Seite … zwischen den Liedern da und dort ein paar Worte, die Begleitung jetzt etwas reduzierter, der eine Bassist hatte an die elektrische Bassgitarre gewechselt, Gitarre und Banjo stiessen dazu, das Klavier und das Schlagzeug (einer der vier oder fünf Schlagzeuger spielte jetzt ein Drum-Kit, die anderen waren an Vibraphonen, Pauken usw. weiterhin sehr beschäftigt) wurden wichtiger, die Bläser hatten auch einiges zu tun, die Streicher blieben oft Kulisse, aber Smirnov sowie die Stimmführerin der Bratschen (Marian Doughty) und der Stimmführer der Cellisten (Martin Zeller – wenn die Namen denn alle stimmen, das Programmheft geht jeweils ca. einen Monat vor den Konzerten in den Druck) hatten ein paar Solo-Einsätze, wie schon davor bei den Todsünden. Das ware eine runde Sache, aber an die Todsünden heran reichte das dann doch nicht ganz. Diese fand ich wirklich fantastisch.

Ich bin dann etwas frühzeitig raus, weil ich auf die letzte vernünftige Verbindung nach Zürich wollte (die ist schon kurz nach 10, danach gibt es erst eine Stunde später wieder eine schlaue, und wie mit allen dazwischen bin ich dann erst um halb 1 zuhause und meistens etwas angesäuert, weil ich noch Anschlüsse verpasse und so). Die letzten zwei Songs von Weill habe und allfällige Zugaben (gehe davon aus, dass es noch welche gab? Ich kenne Lemper und ihre Gepflogenheiten allerdings nicht) habe ich so halt verpasst … aber das jiddische Lied von Ullmann hatte mich derart berührt in seiner zarten und doch vergeblichen Hoffnung, dass ich gar nicht weiss, ob die krawalligen Weill-Songs diese Stimmung nicht völlig getötet haben (klar, das Publikum soll ja nicht traurig, bedrückt, nachdenklich nach Hause gehen) …

Interessant fand ich, dass es für Lemper, nach den Todsünden zumal, keinerlei Anstalten für standing ovations gab – ich bin mir fast sicher, dass das Publikum in der Tonhalle aufgestanden wäre. Manchmal wirkt Basel auf mich etwas behäbig, andere Male wieder begeisterungsfähiger als Zürich … keine Ahnung, woran das liegt. Gestern waren auch ordentlich andere Leute zu sehen als üblich, vermutlich haben so einige ihre Abokarten für einen anderen Abend eingetauscht. Das nächste Abo-Konzert im Stadtcasino dirigiert Mitte Februar erneut Pierre Bleuse – er darf dann auch noch ein „ernstes“ Programm leiten, das ebenfalls vielversprechend klingt: Ligetis Violinkonzert mit Patricia Kopatchinskaja und die „Mysteries of the Macabre“ mit Hélène Walter und danach Mahlers vierte Symphonie arr. von Nicolas Bolens. Da muss ich dann den 23-Uhr-Zug ins Auge fassen, weil bei Mahler frühzeitig gehen, geht natürlich nicht (ich mache das eh höchst ungern).

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