Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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Zürich, Tonhalle – 30.12.2023

Tonhalle-Orchester Zürich
Alondra de la Parra
Leitung
João Barradas Akkordeon
Thomas Enhco Klavier

CARLOS CHÁVEZ Sinfonie Nr. 2 «Sinfonía india»
ÁSTOR PIAZZOLLA «Las Cuatro Estaciones Porteñas» (Arr. für Akkordeon und Streicher Claudio Constantini)

GEORGE GERSHWIN «Rhapsody in Blue» für Klavier und Orchester
E: JACQUES BREL «Vesoul» für Klavier, Akkordeon und Orchester
LEONARD BERNSTEIN Sinfonische Tänze aus «West Side Story»
E: «Candide» Overture + «West Side Story» Reprise

Für einmal sass ich weit hinten im Parkett, statt auf meinen üblichen Plätzen ganz hinten in der Galerie – und ich überleg mir wohl, ob ich kommende Saison mal nach unten wechsle, denn so weit hinten fand ich die Akustik ebenfalls ganz hervorragend (der Balkon ist mir viel zu teuer, dort gibt’s überhaupt kein günstigen Plätze, aber akustisch wäre das vielleicht das Optimum). Das Konzert war begeisternd, und Alondra de la Parras Auftritt sowieso. Es war nicht ihr erstes Silvesterkonzert beim Tonhalle-Orchester, aber das erste, das ich erlebte (ich hatte sie im November 2019 zum bisher einzigen Mal noch in der Tonhalle-Maag erlebt).

De la Parra sagte zum Einstieg ein paar Worte, sehr sympathisch, aber leider schlug sie auch in die selbe Bresche wie der Text zur „Rhapsody in Blue“ im Programmheft, der unkommentiert Paul Whitemans Gerede von der „Nobilitierung des Jazz zur Kunstmusik“ wiedergibt. Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir 100 Jahre später in der Hinsicht etwas weiter sind. Nunja – ich war ja wegen der Musik da, nicht wegen deren Einordnung. Los ging es mit Chávez ca. zwölfminütiger „Sinfonía india“, in einem Teil und in ihrem Farbenreichtum auch gleich das bunteste, vielfältigste Werk des Abends. Das Orchester trat dafür in richtig grosser Besetzung an, die Holdbläser alle in dreifacher bzw. die Klarinetten (mit Es- und Bass-Klarinette) sogar vierfacher Besetzung – und die Schlagzeuger spielten tatsächlich die von Chávez vorgesehenen Instrumente aus der mexikanischen Musik, wie de la Parra anerkennend bemerkte.

Mit verkleinerter Streicherbegleitung folgten dann Piazzollas vier Jahreszeiten mit dem Solisten João Barradas – für mich eine Entdeckung der letzten Jahre: 2023 holte ich sein Solo-Doppelalbum von 2021 auf fuga libera nach („Debut“), davor hatte ich ihn schon auf „Cairo Jazz Station“ (alpha) gehört, und 2022 wirkte er auch bei einem Jazzalbum von Florian Arbenz mit. Das war natürlich melancholische, wunderschöne Musik. Das Arrangement gefiel mir recht gut – aber ich höre Piazzolla weiterhin am liebsten auf seinen eigenen Aufnahmen mit seiner Band. Eine Zugabe von Barradas gab es nicht – das erklärte sich dann später.

Nach der Pause stand der grosse Flügel in der Mitte. Der 35jährige Pianist Thomas Enhco wirkt immer noch jugendlich – und kann dabei schon auf über 20 Jahre im Rampenlicht zurückblicken (er ist, wie sein älterer Bruder David, Sohn aus einer früherer Ehe von Caroline Casadesus, die dann den Geiger Didier Lockwood heiratete, der zum fördernden Stiefvater wurde, Thomas Enhco begann mit zwölf, an Lockwoods Jazzschule zu lernen). Die „Rhapsody in Blue“ fing einigermassen normal an, doch je mehr das Klavier ins Rampenlicht trat, desto mehr Freiheiten nahm Enhco sich heraus, die lange Kadenz in der Mitte dauerte lange, wurde üppig ausgeschmückt … und begeisterte nicht nur mich. Die Zugabe folgte danach, gemeinsam mit Barradas: ein Arrangement von Jacques Brels „Vesoul“, bei dem auch das Orchester mitwirkte – eine sehr schöne Idee, wenngleich die musikalische Ausbeute vor allem für Barradas eher bescheiden blieb.

Und das war es noch lange nicht. Kurze Umbaupause – der Flügel blieb auf der Bühne, aber er wurde nach hinten zur Harfe geschoben. Neben den Klarinetten (zu viert, wie bei Chávez mit Es- und Bassklarinette neben den zwei regulären B-Klarinetten) nahm noch ein Altsaxophonist Platz – und die Celesta, die davor am Rand der Bühne stand, wurde auch nach vorn geholt (vom Pianisten bedient, glaub ich – sehen konnte ich das nicht). Auch daraus wurde eine perfekte Aufführung, die Funken, die de la Parra auf dem Podium entzündete sprangen aufs Orchester und das Publikum über. Die Rhythmen waren jedenfalls sauber erarbeitet, da sass wie zuvor beim Gershwin alles (ganz anders als ich – leider – die Aufführung von „Age of Anxiety“ im März 2018 erinnere: Krystian Zimerman war phänomenal, aber das Orchester unter David Zinman alles andere denn).

Wie anscheinend be de la Parra üblich gab es auch mit dem Orchester noch eine Zugabe – und auch von der war ich begeistert: die Ouvertüre zu Bernsteins „Candide“ ist ein Stück, das ich praktisch auswendig kenne und über das ich mich ein paar Tage davor im Kino beim Abspann von „Maestro“ schon gefreut hatte. Davon nun auch gleich noch eine Live-Fassung zu hören, war wirklich toll. Die zweite Zugabe mit lahmem Mitgeklatsche des Publikums über einen Satz aus der „West Side Story“-Suite (ich weiss nicht mehr, ob’s der Mambo oder Rumble war) hätte ich dann eher nicht gebraucht, aber das ist nach so einem packenden Konzert nicht weiter tragisch.

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