Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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Zürich, Tonhalle – 14.12.2023

Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi
Music Director
Wayne Marshall Klavier und Orgel

BRYCE DESSNER «Mari» für Orchester
GEORGE GERSHWIN Concerto in F
E: Improvisation über „Have Yourself a Merry Little Christmas“

WAYNE MARSHALLL Orgel-Improvisation über „Stille Nacht“
SERGEJ RACHMANINOFF Sinfonische Tänze op. 45

Das letzte Konzert des Jahres mit dem Tonhalle-Orchester unter Paavo Järvi war klasse. Das ca. 20minütige Orchesterstück von Dessner (Gitarrist von The National und Komponist und in der Saison 2023/24 „Creative Chair“ beim Tonhalle-Orchester) entstand in der Pandemie und war im Juni 2021 von Semyon Bychkov, dem Widmungsträger und Freund Dessners, mit dem Tonhalle-Orchester uraufgeführt worden. Auf „ausgedehnten Spaziergängen“ durch die „schönen Wälder und Berger“ an der baskischen Küste Südfrankreichs, (wo Dessner und Bychkov leben) „stellte ich mir vor, wie er über die grossartigen Stücke in seinem eigenen umfangreichen Repertoire sinniert und wie sich die Klänge des Waldes und die Stille der schönen Natur wohl mit seinen eigenen musikalischen Erinnerungen verbinden mögen. Meine Orchesterkomposition ‚Mari‘ ist eine Reflexion über das Pastorale. Sie verwebt verschiedene Texturen und Fragmente aus Werken der Musikgeschichte durch eine Art Abstrahierung und den veränderten Kontext zu etwas Neuem, am ohrenfälligsten eine Melodie aus dem ersten Satz von Dvoráks Sinfonie ‚Aus der neuen Welt‘ und Texturen aus dem vierten Satz von Mahlers erhabener Sinfonie Nr. 3. Mein Werk ist nach der baskischen Göttin des Waldes – Mari – benannt“ (Dessner im Programmheft). Das war ein langsamer, sich ganz allmählich entfaltender, für meine Ohren sehr klangschöner Einstieg – bei dem ich öfter mal an Klänge aus der Spektralmusik denken musste.

Dann wurde der Flügel nach vorn gerollt – Wayne Marshall trat auf, unprätentiös im etwas zu engen schwarzen Rollkragenpulli – und spielte eine phänomenale Version von Gershwins Klavierkonzert. Meine zweite in recht kurzer Zeit – im Juni 2022 war das mit Igor Levit und Tonhalle/Järvi vorgesehen, doch weil Levit erkrankte, übernahm damals Kirill Gerstein. In der Erinnerung war dessen Zugriff schärfer, während das Stück bei Marshall oft wie aus dem Augenblick improvisiert klang. Sehr toll jedenfalls, beide Male. Und natürlich gab’s eine kleine Zugabe: Marshall spielte „Have Yourself a Merry Little Christmas“ am Klavier.

In der Pause wurde der Spieltisch für die Orgel nach vorn gerollt – ein futuristisches Ding, das irgendwie etwas deplaziert wirkt in der auf 19. Jahrhundert gebürsteten, renovierten (wiederhergestellten) Tonhalle. Umso schöner Marshalls erneut lockerer Auftritt, wie er sich auf die Bank setzte, darauf herumrutschte, sich halb zum Publikum drehte, meinte, er brauche nun Hilfe: nach einer kurzen Einleitung sang der Saal eine Strophe von „Stille Nacht“ und dann improvisierte Marshall erneut. Die neue Tonhalle-Orgel hörte ich dabei zum ersten Mal und ich befürchte, das war kein so guter Einstieg. Der Klang war mir meist etwas zu wenig vermischt, einerseits brummten die Bässe, andererseits zog Marshall viele Register, es flötete und manchmal zirpte es fast wie eine billige elektrische Orgel – irgendwie ziemlich körperlos, ohne echten Wumms.

Das dauerte leider auch nicht mal zehn Minuten und dann war schon wieder Umbau angesagt für den abschliessen Rachmaninoff, der erneut (nach dem Rachmaninoff-Zyklus, den Järvi in der Oper krönend abgeschlossen hatte) wunderbar war, gradlinig und auf den Punkt – und dennoch unglaublich farbenprächtig. Ein wunderbares Finale – das allerdings nicht mein letzter Tonhalle-Abend bleiben soll, da ich vor ein paar Tagen kurzentschlossen noch eine Karte für die erste Aufführung des Silvesterkonzerts mit Alondra de la Parra am Pult gekauft habe.

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