Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

#12214539  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 67,736

27.11.2023 – Zürich, Tonhalle

Francesco Piemontesi Klavier

CLAUDE DEBUSSY Aus Préludes, Heft II
«Brouillards»
«Feuilles mortes»
«Les fées sont d’exquises danseuses»
«Général Lavine – eccentric»
«La terrasse des audiences du clair de lune»
«Feux d’artifice»

SERGEI RACHMANINOFF Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 36 (Fassung 1913)

FRANZ SCHUBERT Klaviersonate Nr. 21 B-Dur D 960

Das hier und das unten habe ich noch vergessen … fielen beide mitten ins Unerhört-Festival, bei dem ich über insgesamt zehn Tage (mit zwei oder drei Tagen Pause, inklusive diesem Montag, als ich zu Piemontesi ging) sehr viel grossartigen Jazz hören konnte.

Das Rezital von Piemontesi war glaub ich ein ähnlicher Fall für mich wie der Bach-Abend von Schiff: hervorragend gespielt, gar keine Frage – aber so ganz an mich ging das nicht, besonders nicht der Schubert nach der Pause. Die erste Hälfte fand ich allerdings sehr gut. So dunkel, ja abgründig düster habe ich Debussy noch nie gehört – das war atemberaubend und ein wahnsinnig starker Einstieg in das Konzert. Den Rachmaninoff fand ich dann ebenfalls hervorragend, vermutlich mein Highlight und eine perfekte Ergänzung zu den beiden Konzerten mit Orchester früher im November.

Nach der Pause wurden die Steinways getauscht. Soweit ich das aufschnappte, als jemand nachfragte: weil Piemontesi für den Schubert einen weniger dunklen, farbenreicheren spielen wollte. So war das denn auch tatsächlich, am zweiten Steinway klang alles etwas weicher, das Spektrum an Klangfarben war reichhaltiger – und irgendwie kam der romantische Schubert vielleicht daher weniger wuchtig, oft geradezu verspielt. So, dass ich mich mehrmals fragte, warum er nicht einen Hammerflügel oder ein richtig altes Klavier spielt bei dem Ansatz. Denn – paradox vielleicht, ich weiss – ich mag gerade D 960 am modernen Instrument am liebsten so düster wuchtig und kantig-karg wie den Debussy, mit dem Piemontesi mich sofort hatte. Die stehenden Ovationen gab’s zwar erst hier, nach dem Schubert, aber für mich war klar die erste Hälfte die bessere.

01.12.2023 – Zürich, Tonhalle – Sonic Matter

Am Freitag hatte ich dann ein irres Programm: vor der zweiten Hälfte des dreiteiligen Unerhört-Abends in der Roten Fabrik war ich schon ab 18 Uhr in der Tonhalle, wo es in der Prélude in der kleinen Tonhalle ein Künstlergespräch und Kammermusik mit Farzia Fallah, Ari Ben-Shabetai und Franziska Gallusser (Moderation) gab. Das Gespräch wurde auf Englisch geführt und war vielleicht auch deswegen mässig informativ (Fallah lebt seit 20 Jahren in Deutschland, aber Ben-Shabetai kann wohl kein oder nicht genügend Deutsch, der anderen beiden Englisch reichte aber eher für etwas – nicht sehr entspannte – Konversation als für ein vertiefendes oder gar prägnantes Gespräch). Die aufgeführte Musik war allerdings gut und Ben-Shabetais Erläuterungen zum später im grossen Saal zu hörenden Klavierkonzert dem Verständnis durchaus dienlich. In der Prélude fand ich das Solo-Stück für Flöte von Fallah sehr toll – herausfordernd für den Solisten wie auch für das Publikum mit all den unkonventionellen Spielweisen und Tönen, die es verlangt.

Annika Starc Violine
Massimiliano Iezzi Klavier
Hèctor Rodríguez Palacios Altflöte

ARI BEN-SHABETAI Sad City für Violine und Klavier
FARZIA FALLAH Farzia Fallah Posht-e Hichestan für Alt-Flöte solo

Tonhalle-Orchester Zürich
Pierre-André Valade
Leitung
Amit Dolberg Klavier

GYÖRGY LIGETI «Lontano» für grosses Orchester
ARI BEN-SHABETAI Klavierkonzert – Schweizer Erstaufführung
FARZIA FALLAH «Traces of a Burning Mass» – Schweizer Erstaufführung
IVAN FEDELE «Due letture del tempo»

Ein solches Konzert findet im regulären Programm der Tonhalle keinen Platz – das geht nur, wenn es im Rahmen des Sonic Matter-Festivals aufgeführt wird, dem Wurmfortsatz der seit Jahren einen langsamen Tod sterbenden Juni-Festwochen. Diese liefen von 1921–1993 mit Beteiligung der grossen Stadttheater. Ab 1996 gab es dann die Zürcher Festspiele, die ab 2012 Festspiele Zürich hiessen, ab 2016 nur noch zweijährlich stattfanden, und 2020 dann – nachdem die letzte Durchführung nur virtuell als Rumpf-Veranstaltung durchgeführt werden konnte – eingestellt wurden (der Beschluss war schon 2019 gefällt worden, der Ausklang also besonders bitter). Das Sonic Matter scheint die Nachfolge angetreten zu haben – und hat sich der elektronischen und experimentellen Musik geöffnet, die im Zentrum steht. Der jeweils eine Tonhalle-Abend ist dabei eher der Exot (und wird auch von der Tonhalle selbst mitgestaltet, da sass auch keineswegs eine Art Zweitbesetzung auf der Bühne). Deppert halt, angesichts der neuen Schwerpunkte nur umso depperter, dass es auf das zweite Wochenende fällt, an dem auch das jeweils zehntägige (Freitag bis Sonntag der Folgewoche) dauernde Unerhört stattfindet, das ganz den aktuellen, teils experimentellen Seiten des Jazz und der Improvisation gewidmet ist: Es gab heuer ein Programm mit Musik von Zeena Parkins, von ihr geleitet, sowie ihren eigenen Solo-Auftritt, und eine zehnstündige Performance eines Stückes von Olga Neuwirth, und das hätte vom Profil her gerade so gut zum Sonic Matter gepasst. Man macht sich da also gegenseitig das Publikum abspenstig, und so wundert es mich auch nicht, dass ich munkeln hörte, da Sonic Matter liefe so schlecht, dass es vielleicht auch bald wieder verschwinde. Wenn das von Beginn an als Fehlplanung konzipiert ist, dann kann das halt passieren – bedauerlich fände ich es alleweil, denn mich hätte da schon die eine oder andere weitere Veranstaltung angesprochen, und das Tonhalle-Konzert war schon letztes Jahr ein Highlight, als Ruzicka Werke von Enescu sowie eigene dirigierte, darunter auch „Depart“, das Bratschenkonzert für Celan, mit Nils Mönkemeyer.

Aber gut, dieses Jahr gab’s ein vergleichsweise kompaktes, ca. 70minütiges Programm (was mir sehr gelegen kam). Nach Ligetis „Lontano“, das schon mal das Zeitgefühl vertrieb und den Saal auf einige Dissonanzen einstimmte, folgte Ben-Shabetais Klavierkonzert, in dem er zwischen Stilen springt, wie er erläutert hatte: drei Sätze in ABA, BAB, ABA Form, wobei jeweils die B-Teile sich an romantischen oder noch älteren Komponierweisen orientieren, während die A-Teile ganz in seinem eigenen Stil daherkommen. Das ergab eine recht spannende Dynamik, in der im letzten Satz auch Jazz und weiteres Populären aus dem 20. Jahrhundert reinspielte – während davor eher Chopin oder Skrjabin antönten. Fallahs Orchesterstück (ihr zweites erst) und das abschliessende Finale hinterliessen einen weniger prägnanten Eindruck – aber ich ging raus mit dem Gedanken, dass es schon toll wäre, wenn solche Abende viel häufiger stattfinden würden. (Das Publikum ist allerdings eindeutig nicht dieser Meinung, der Saal war wohl nur zu einem Drittel oder so besetzt.)

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #156 – Benny Golson (1929–2024) – 29.10.2024 – 22:00 / #157 – 12.11.2024 – 22:00 / #158 – 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba