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Zürich, Opernhaus – 18.11.2023
Richard Wagner (1813-1883)
Götterdämmerung
Dritter Tag des Bühnenfestspiels «Der Ring des Nibelungen», Text von Richard Wagner
Musikalische Leitung Gianandrea Noseda
Inszenierung Andreas Homoki
Ausstattung Christian Schmidt
Künstlerische Mitarbeit Bühnenbild Florian Schaaf
Video Tieni Burkhalter
Lichtgestaltung Franck Evin
Choreinstudierung Ernst Raffelsberger
Dramaturgie Werner Hintze, Beate Breidenbach
Siegfried Klaus Florian Vogt
Gunther Daniel Schmutzhard
Alberich Christopher Purves
Hagen David Leigh
Brünnhilde Camilla Nylund
Gutrune Lauren Fagan
Waltraute Sarah Ferede
Erste Norn Freya Apffelstaedt
Zweite Norn Lena Sutor-Wernich
Dritte Norn Giselle Allen
Woglinde Uliana Alexyuk
Wellgunde Niamh O’Sullivan
Floßhilde Siena Licht Miller
Wotan Wolfram Schneider-Lastin
Stunt Valentin Lendenmann
Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich
Fünfeinhalb Stunden in der Oper? Geht schon, selbst wenn man, wie ich gestern, in der hintersten Ecke einer Loge einen quasi Hör- oder Stehplatz hat. Wenigstens die halbe Zeit bin ich gestanden und hatte so einen ziemlich guten Blick auf die Bühne und auch ein wenig in den Graben.
Um es vorwegzunehmen: ich war in vielerlei Hinsicht begeistert, auch wenn es schon die eine oder andere Länge – oder eher: Müdigkeitsphase – zu überstehen galt. Das Regiekonzept, bei dem alles Bühnengeschehen aus der Musik heraus entwickelt wird, nichts gedeutet werden soll, kommt beim Abschluss der Tetralogie an seine Grenzen, doch Homoki findet weiterhin für fast alles gute Lösungen – zum Beispiel, dass bei den beiden langen Orchesterzwischenspielen sich schlicht der Vorgang schliesst und der Fokus so ganz auf das splendide Orchester gerichtet wird.
Überhaupt: Was Gianandrea Noseda da im Graben macht, ist umwerfend. Das hat mich – wie aufgrund der bisherigen drei Teile auch erwartet – wieder vollkommen überzeugt, nachdem ich sein Rachmaninoff-Programm neulich ja nicht so gut wie das von Järvi gefunden hatte (s.o.). Die Philharmonia bietet das volle Programm, von zartesten Pianissimi zu knallenden Fortimissimi, die den Raum buchstäblich füllen. Was die Pianissimi angeht: ich war öfter mal durch nicht lokalisierbares Flüstern irritiert – und hab dann zu Beginn des dritten Aktes endlich gemerkt, dass es die Soufflierbox ist, die ich hören konnte. Ob die etwas lauter war als üblich oder ob ich einfach, weil ein paar Meter näher als meien üblichen Plätze, sie für einmal besser hören konnte, kann ich nicht entscheiden (bei „La rondine“ gab’s keine – oder allenfalls von der Bühnenseite, wer weiss).
Die Darstellung des Helden als hoffnungsloser Naivling wird in diesem Schlussteil natürlich auf die Spitze getrieben, Klaus-Florian Vogt springt und hüpft in alberner Dreiviertelhose auf der Bühne herum, die wie bei allen vier Teilen als Drehbühne mit einfachen Räumen und ganz in weiss gehalten ist. Die Bilder, die Homoki dabei erzeugt, kann ich als Ganzes weniger gut beurteilen, weil ich halt ab und zu hinsitzen musste und gerade die bei solchen kargen Inszenierungen so wichtige Figurenregie nicht ständig beobachten konnte. Das werde ich im Mai nachholen können, wenn ich den ganzen Ring als Zyklus erneut sehen werde, dann wieder von ganz oben (Zweiter Rang, gestern war ich, drum das Kalauerfoto oben, in einer Loge im ersten Rang), wo ich eh am liebsten bin, und dann ausnahmsweise auch von der ersten Reihe aus, nicht wie üblich von der zweiten oder vierten (wo ich meine beiden bevorzugten Plätze gefunden habe – bzw. vier, links oder rechts, aber die waren für die gestrige Vorstellung alle schon weg, als ich im Frühling gebucht hatte). Und klar, die Figurenführung ist mir auch tatsächlich wichtig, das ist ein Aspekt, der für mich oft den Unterschied zwsichen gut und hervorragend macht.
Hervorragend war gestern auch die Mehrzahl der Sänger*innen, allen voran nicht Vogt sondern Camilla Nylund. Beide haben sie beim Zürcher Ring über alle Teile ihre Rollendebuts gegeben – und das war im Fall von Nylund wohl noch etwas eindrücklicher, denn im Gegensatz zu Vogt, der seine Rolle richtig schön sang und den doofen Jüngling auch ganz passend verkörperte, brachte Nylund das Haus förmlich zum Erbeben, zum Erzittern, zum Erstarren. Eine unfassbar beeindruckende Performance auch gestern wieder, emotional, aufwühlend. Trotz ihrer Uneinsichtigkeit, als ihre Schwester Waltraute (die starke Sarah Ferede) sie im zweiten Akt zur Vernunft bringen will, ist ihre Brünnhilde das Gefühls-Epizentrum dieser „Götterdämmerung“, die stärkste, ja tragende Gestalt.
Das Emporkömmlings-Geschwisterpaar Gunther und Gutrune wurde von Daniel Schmutzhard (Rollen- und Hausdebut) und Lauren Fagan ebenfalls sehr gut dargestellt. Etwas Mühe hatte ich gesanglich (aber nicht darstellerisch) mit dem Hagen von David Leigh (noch ein Rollendebut, was auch für die drei Nornen und die drei vom Vorspiel wiederkehrenden Rheinmädchen gilt – letztere auch vom selben Trio gesungen wie im April 2022, als der neue Ring startete). Leigh scheint die Tiefe nicht ganz zu haben – oder er hinterlässt bei mir den Eindruck, weil er viele Vokale fast schon grotesk verfärbt, um nicht zu sagen zersägt (aus dunklen „A“s und „O“s werden helle „E“s). Seine Stimme ist allerdings schon ansprechend. Stark war dagegen der letzte Auftritt von Christopher Purves als seinem Vater Alberich.
Den Schluss – ich hatte ihn bei den Regie-Einfällen oben noch weggelassen – fand ich ebenfalls gut. Offen, nicht ausgedeutet gewissermassen. Dass ein Stuntman im Flammenanzug über die Bühne rennt, ist vielleicht etwas zu viel. Dass aber Brünnhilde inn ihrem langen (von Nylund grandios gesungenen) Finale erneut auf dem goldenen Liebesbett vom Schluss von „Siegfried“ singt – auf dem dieser, längst tot, auch noch liegt, ist ein toller Einfall. Sonst ist Walhall am Ende leer, und bereits nachdem der Vorhang schon einmal gefallen ist, sitzt Wotan, der schon davor einen stummen Auftritt (natürlich nicht mit Tomasz Konieczny, dem vormaligen Sänger der Rolle) hatte als heimatlos gewordene Wanderer, erneut stumm da, in den Trümmern seines Werkes und sieht auf einer Leinwand in einem Bilderrahmen seine Welt in Flammen aufgehen (das war dann der einzige Video-Einsatz, falls jemand bei den Credits darüber gestolpert ist). Es im Schlussspiel noch ein paar weitere Vorhänge, die Drehbühne und die offenen Räume ein letztes Mal effektiv eingesetzt – und die Musik im Graben glänzend und doch einen Funken Hoffnung versprühend?
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 (Teil 1) - 19.12.2024 – 20:00; #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba