Antwort auf: Literarische Begegnungen (Lesungen)

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ford-prefect
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Peter Kemper „The Sound of Rebellion“, Enjoy Jazz Festival, Karlstorbahnhof Heidelberg, 15. Oktober 2023

Etwas Jazz-Geschichte zum späten Frühstück bzw. kurz vor dem Mittagessen gabs am gestrigen Sonntag im Kulturzentrum Karlstorbahnhof in Heidelberg: Dort stellte der Publizist Peter Kemper, der bis zu seiner Verrentung als Hörfunkjournalist beim Hessischen Rundfunk tätig war, etwa im redaktionellen Hintergrund der schönen Gesprächssendung hr2-Doppelkopf, sein vor drei Tagen druckfrisch erschienenes Sachbuch „The Sound of Rebellion“ vor. Darin setzt sich der 73-Jährige, dem man sein Alter in keiner Weise anmerkt, mit der Jazz-Geschichte unter dem Einfluss der politischen Bedingungen in den USA auseinander. Zum Beispiel im Zusammenhang mit der Segregation, also der Trennung zwischen schwarzen und weißen Menschen in den USA vor einigen Jahrzehnten. Aus dieser Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung erwuchs eine spezielle Rebellion von Jazz-Musikern, die ihre Bürgerrechte einforderten und in den Mainstream drängten, um verstärkt Gehör zu finden, als Menschen und als Künstler.

Ursprünglich wollte Peter Kemper, der Publikationen über Eric Clapton, Jimi Hendrix, die Beatles, Muhammad Ali und Helge Schneider verfasste, das soeben erschienene Buch schon Anfang der 1980er Jahre zu Papier bringen. Doch erst jetzt im Ruhestand fand Kemper ausreichend Muße, dieses publizistische Projekt umzusetzen. Zuerst waren rund 350 Seiten dafür angedacht gewesen … daraus sind schließlich über 750 Seiten geworden. Im Heidelberger Karlstorbahnhof hielt zur Einleitung der Reclam-Lektor Hannes Fricke eine Ansprache, der von der Entstehung des Sachbuchs „The Sound of Rebellion“ berichtete und sich für die Ehre bedankte, als Lektor für Peter Kemper arbeiten zu dürfen. Eigentlich hätte, wie Enjoy-Jazz-Veranstalter Rainer Kern erklärte, Saxofonist Archie Schepp als Sepcial Guest während der Lesung spielen sollen … doch Schepp erlitt vor wenigen Tagen einen Bandscheibenvorfall, weshalb er sich unters OP-Messer legen musste und gerade erholt. Deshalb muss sein für morgen angesetztes Konzert mit Moor Mother auf nächstes Jahr verlegt werden.

Als Beispiel für rebellische Jazz-Musik führte Gastredner Peter Kemper die 1970 von Rahsaan Roland Kirk gegründete Aktivistengruppe „Jazz and People’s Movement (JPM)“ an. Damals trat Kirk in der Ed Sullivan Show mit dem provozierenden Stück „Haitian Fight Song“ im landesweiten Fernsehen auf … wie der Titel des Stücks andeutet ein sehr kämpferisches Werk, was für Aufsehen sorgte. Wie man sich als dunkelhäutiger Mensch über die weiße Gesellschaft amüsieren und sich über sie hinwegsetzen kann, habe Charles Mingus mit seinem Album „The Clown“ von 1957 auf Atlantic-Records demonstriert. Auf dem Album-Cover sieht man den Jazz-Kontrabassisten mit weiß geschminktem Gesicht. Nennt man heute Whitefacing. Außerdem sprach Peter Kemper darüber, wie früher Musikclubs die schwarzen Jazz-Musiker ungerecht behandelten, da die Clubs sie nicht als vollwertige Angestellte betrachteten und die schwarzen Künstler deshalb keine Arbeitslosenhilfe oder sonstige Sozialleistungen gezahlt bekamen. Im berühmten Five Spot Club in New York trat darum Charles Mingus einst für eine ausholende Publikumsbeschimpfung auf die Bühne, um seinem Zorn über Hipster und Snobs etwas Luft zu machen, die seiner Meinung nach gar nicht wirklich am Jazz interessiert seien. Später spielte Vorleser Kemper das tonale Gedicht „Freedom“ von Charles Mingus ab, in dem ein Esel auftritt (the mule). Peter Kemper interpretiert, gemeinhin anerkannt, den Esel als Metapher für den schwarzen Menschen. „Die Sturheit ist seine Stärke, seine Widerstandskraft und Ausdauer“, analysierte Schriftsteller Peter Kemper. Wenn man sich wie ein Esel unter lauter Pferden fühlt.

Mit 38 Euro hat das Sachbuch „The Sound of Rebellion“ einen hohen Preis, fast wie ein Fachbuch allein für akademische Kreise. Im Grunde ist es das auch, denn Kemper betrachtet das Thema „Jazz und Politik“ aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive heraus. Meiner Meinung nach hättens 30 Euro auch getan. Doch wenn man bedenkt, dass Peter Kemper vier Jahre an dem Buch schrieb und enorm viel Arbeit in das Projekt investierte, ist jeder Euro gerechtfertigt. Stattdessen habe ich mir jedoch sein dünnes rotes Reclam-Bändchen über Helge Schneider, der ja ausgewiesener Jazz-Liebhaber ist, für nen Zehner am Büchertisch gekauft.

Vor genau einem Jahr zog der Karlstorbahnhof in den Heidelberger Süden um, in ein gänzlich neu entstandenes Gewerbe- und Wohngebiet, richtig fein. Rund um den Karlstorbahnhof tragen die neu angelegten Straßen künstlerisch klingende Namen wie Nina-Simone-Straße, Billie-Holiday-Straße oder Marlene-Dietrich-Platz (in der 3 steht der neue Karlstorbahnhof). Endlich bin ich mal dazu gekommen, mir das neue Kulturzentrum anzuschauen, nachdem ich dort Henry Rollins im letzten März verpasst hatte … sehr gelungen, auch die Parkplatzsituation ist am jetzigen Standort deutlich besser als früher rund um das alte Karlstor.

zuletzt geändert von ford-prefect

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