Antwort auf: 2022 & 2023 & 2024: jazzgigs, -konzerte, -festivals

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Carte Blanche für Eve Risser – Amphi de l’Opéra de Lyon

27.09.2023 – Risser-Duboc-Perraud „en corps“
Eve Risser – piano (préparé et non préparé); Benjamin Duboc – bass; Edward Perraud – drums, percussion

Der Konzertbeginn wurde kurzfristig um eine halbe Stunde auf halb neun verschoben, weil es Probleme bei der Anreise gebe. Perraud war verspätet, er kam um viertel nach acht auf die Bühne, um seine Becken einzurichten und die dutzenden Schlägel und Sticks, kleine Becken, Glocken, Gongs etc. bereitzulegen. Nach einer wortreichen Einleitung durch den verantwortlichen von der Oper Lyon, in deren Keller das Konzert stattfand, folgte ein wahnsinnig faszinierendes Set, 70 Minuten am Stück – die aufgrund der beiden Alben höchsten Erwartungen wurden locker erfüllt.

Ein Auf und Ab, dem zu folgen kaum möglich war, weil so viel passierte – ständig die Frage: wie kamen sie von da, wo sie gerade erst waren, den völlig anderen Punkt, an dem sie jetzt sind. Die drei atmeten mit- und gegeneinander, reagierten, ignorierten. Nach einigen konzentrierten Minuten ganz ohne Blickwechsel (und ein paar Gesten zur Person am Mischpult, Soundcheck war nicht drin) fand das Trio sich in einem Flow, entspannte sich etwas ohne an Spannung zu verlieren. Risser ordnete die Gegenstände im Innern des Flügels immer wieder neu, darunter waren auch Gerätschaften, die das Klavier buchstäblich zum Schlagzeug machten – gegen Ende des Sets kam es damit zu einem längeren Zwiegespräch mit Perraud. Ansonsten fehlte das klassische Interplay völlig, ebenso jegliche Aufteilung von Solo und Begleitung. Die Stimmen umrankten sich, Dubocs Bass flirrte im Flageolett, es wurde auch mal sein Körper mit Besen bearbeitet, er wirkte als Boden, aber war weit davon entfernt, stabil zu sein. Verlassen brauchte sich auf ihn auch niemand, denn das können sie alle drei ständig auf die beiden anderen.

Mir scheinen am ehesten Metaphern aus der Malerei zu passen, um die Musik zu beschreiben: Sie bewegt sich vollkommen organisch zwischen feinster japanischer Kalligraphie und dicken Ölschmierereien, die Breite der Pinsel und deren Führung ändern mit jeder Handbewegung, die Rhythmik des Malens ist in ständiger Bewegung, ein fortlaufendes, impressionistisches Panoptikum mit ständig wechselnden Farben, die sich überlagern, die ausbleichen, um von wieder neuen überdeckt zu werden.

28.09.2023 – Brique – Emmanuel Scarpa „Might Brank / The Masks“
MIGHT BRANK | THE MASKS Emmanuel Scarpa – drums, percussion, voice, electronics.
BRIQUE: Bianca Iannuzzi – voice, electronics; Eve Risser – piano, flute; Luc Ex – acoustic bass guitar; Francesco Pastacaldi – drums

Scarpa spielte das erste Set, Schlagzeug plus Stimme mit Sampler, teils schuf er ganze Chor-Kulissen, die er aber auch rhythmisierte, zerklüftete, stottern und rattern liess. Sehr poetische Klanggebilde waren das, am faszinierendsten für mich die Momente, in denen er den Gesang so schichtete, dass eine Art von Chorälen entstand, die irgendwo zwischen Gregorianik und früher Renaissance schwebten – nicht wohltemperiert und abseits heute geläufiger Harmonik oder Dur- und Molltonleitern, dabei perfekt umgesetzt und umso beeindruckender.

Brique folgten mit einem lauten, wilden Set irgendwo zwischen Chanson Brut und Punk Jazz. Risser traktierte ein Upright-Klavier, spielt immer wieder irre virtuose, von dichten Akkorden unterfütterte Läufe, die mehr an Rachmaninoff denn an Jazz erinnerten, schob Gegenstände zwischen die Saiten, spielte mit Schlägeln, Stöcken, schabte mit Gegenständen an den Saiten herum … Luc Ex prägt den Klang der Band mit seiner akustischen Bassgitarre, die er oft auch wie eine Gitarre schrammelnd spielte und die so sehr verstärkt war (eingesteckt), dass sie phasenweise das Klavier und den Gesang zu ertränken drohte. Bianca Iannuzzi sang in der ersten Nummer in ein Mikro, das ihre Stimme wie aus einem alten Transistor-Radio klingen liess. Ihre Präsenz wurde im Lauf des Sets immer wuchtiger und quirliger, akrobatischer. Sie rezitierte, sang, kreischte die Texte, die aus unterschiedlichen Quellen stammen, etwa von Allen Ginsberg oder Louise Glück, oder aus einer Sammlung von Écrits Bruts aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts.

Für das letzte Stück holte Risser ihre Querflöte hervor und übernahm erstmal das Gesangsmikrophon, um dann Iannuzzi Platz zu machen und selbst weiterspielend durchs Publikum zu tanzen – Rattenfänger von Hameln?

Als Zugabe spielte das Quartett eine kurze Improvisation.

Links: das Set-Up für Emmanuel Scarpa (mit Gong, Gesangsmikrophon und Sampler/Elektronik hinter der Snare, der Rest war fürs zweite Konzert vorbereitet); rechts: das Set-Up für’s Ensemble Ensemble: auf dem Stuhl zwischen Flügel und Drum-Kit sass Marie Kven Brunvoll (die Zither oder was immer das vorn links auf dem Tischchen ist, kam wohl nicht zum Einsatz?), hinterm Tisch mit Wasserflasche sass Kim Myhr, die Pedalbatterie vorne gehörte Geoges Dumitriù.

01.10.2023 – L’Ensemble-Ensemble “On peut faire des airs”
Eve Risser – piano, alto flute; Marie Kven Brunvoll – voice, electronics; Kim Myhr – guitar, electronics; Georges Dumitriù – violon, viola; Toma Gouband – percussion.

Arrangements von alten elsässischen und norwegischen Liedern – eben „airs“ – gab es zum Abschluss. Ein neues Projekt, das die Tage anderswo in Frankreich (Nantes?) auch öffentliche Proben abgehalten hatte. Alles etwas verhalten, wie zurückgehalten, völlig ohne „playing“. Oft war das sehr schön, die Klangschichtungen veränderten sich ständig – das war auch wirklich alles geprobt, und darin lag vielleicht für mich etwas das Problem: diese stille, sehr warme, sehr klangschöne Musik wirkte mit der Zeit etwas gleichförmig, es fehlte ihr das Explosive, Anarchische von Brique ebenso wie der sicherheitsnetzlose Wagemut von „en corps“.

Leise mäandernde Aneignungen, teils mit stark veränderten Texten, wie in den Ansagen zu hören war. Diese kamen von Risser, obwohl sie sich ausdrücklich nicht als Bandleaderin verstanden haben wollte. Wabergitarre (manchmal war nicht klar, ob die Gitarre Input für de ganze Elektronik auf dem Tisch gab, oder ob Myhr letztere unabhängig einsetzte), mit verfremdeter Gesangsstimme (auch da wurde immer wieder an irgendwelchen Reglern gedreht), dazu Beats, die manchmal durchaus zickig waren, gegenläufig – aber sowohl die liegender Bassdrum wie auch die Snare waren mit Filz bedeckt, damit da auch ja nichts zu laut knallt. Am ratlosesten liess mich allerdings Dumitriù zurück, der eigentlich nur Fragmente spielte, ein paar wiederholte Pizzicato-Töne, eine halbe, repetierte Linie, ein paar Schabgeräusche – und wozu er all die Pedale dabei hatte, weiss ich auch nicht (ich vermute, der Ton wurde einfach durch zehn davon gejagt, bevor er aufs Ohr des Publikums traf, dran rumhantiert hat er praktisch nicht). Böse Zungen behaupten, das sei anthroposophische Feel-Good-Musik gewesen … aber so weit muss ich nicht gehen, das war schon irgendwie schön. Aber dass es da keine Zugabe gab, war dann holt auch konsequent (vielleicht hatten sie – wie Brique – auch nichts weiteres geprobt gehabt, aber der Applaus konnte sich auch nicht klar für eine Zugabe entscheiden).

Alles in allem eine schöne Werkschau einer Musikerin, die ich nach wie vor super spannend finde. Das ersten Konzert war wie erwartet das grosse Highlight. Und jetzt freue ich mich auf die erste Live-Begegnung mit dem Red Desert Orchestra beim Jazzfest Berlin. Das dortige Konzert des White Desert Orchestra im November 2016 war mein Einstieg in Rissers Musik, das „en corps“-Trio habe ich auch erst danach entdeckt (und sie als Solistin, in einem freien Trio mit Devin Gray und Miles Perkin sowie im ebenfalls freien Duo mit Marco von Orelli live gehört).

[Die Reihenfolge bei den Line-Ups entspricht stets derjenigen auf den Fotos v.l.n.r.]

PS: Es gab im Rahmen des Festivals auch noch eine Filmvorführung mit anschliessendem Gespräch („Divertimento“ von Marie-Castille Mention-Schaar aus dem Jahr 2022) sowie eine Listening-Session („La Playlist du siècle“) mit Rissser, Marie Kven Brunvoll und Toma Gouband vom Ensemble Ensemble, an den Tagen zwischen Konzert zwei und drei – aber beide Male hatte ich anderes vor.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba