Antwort auf: 2022 & 2023 & 2024: jazzgigs, -konzerte, -festivals

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Erb-Mayas-Hemingway – Theater am Gleis, Winterthur – 31.05.2023
Christoph Erb (ts, ss), Magda Mayas (p, objects), Gerry Hemingway (d)

Zum Abend in Winterthur letzte Woche wollte ich längst schon schreiben – das war super, schöne Stimmung, zwei ordentlich (heraus-)fordernde Bands – da kam fast ein wenig Festivalatmosphäre auf. Wegen des schönen Wetters (so heisst es, ich muss das hoffentlich nicht verstehen) kämen nicht mehr viele Leute zu Konzerten, so heisst es, es waren wohl nicht viel mehr als zwei Dutzend, gerade so, wie auch gestern im Moods.

Den Wahlluzerner Christoph Erb (er stammt aus Zürich) habe ich vor einigen Jahren schon einmal gehört, als er im Luzerner Hinterland das Jazzfestival Willisau eröffnete – ein fulminantes Set mit Jim Baker und Frank Rosaly, dem die nachfolgende Gruppe, wegen der ich eigentlich hingefahren war, James Blood Ulmer & The Thing, nicht gewachsen war. Das Trio mit der australischen Berlinerin Magda Mayas und dem ebenfalls Wahlluzerner Gerry Hemingway funktioniert ganz anders – und doch war das ein ähnlich umwerfendes Set.

Er spielte keinen konventionellen Ton, keine Phrase, keine Melodie in diesem Set. Stattdessen spielte er längere Töne, die mit Obertönen, sich verändernden Pitches, in Volumen, Lautstärke etc. ständig in Bewegung blieben. Mayas stand meist halb über den Flügel gebogen da, auf dessen Saiten sie Gegenstände platziert hatte, mit denen sie den Klang präparierte – auch das eine Arbeit mit vielen Klängen, Einzeltönen, Klangveränderungen, z.B. mit den im Bild sichtbaren Holzstäben oder auch mal mit einer losen Saite, die sie um eine Klavierseite zog. Hemingway fiel manchmal in Patterns oder knappe Grooves, aber auch er arbeitete die meiste Zeit am Sound. Wie das Trio dabei stets total fokussiert blieb und zugleich jede*r für sich – völlig vertieft wirkten sie – und alle zusammen die Musik formten, mit Timing, mit Aktion und Reaktion aber auch mit fast schon sturem Beharren … das gefiel mir ausserordentlich gut. Fordernd war das, aber auch sehr schön, wenn man sich darauf einlassen mochte. Und dazu war das kleine Grüpplein bereit, das erschienen war.

Die Fermentierten – Theater am Gleis, Winterthur – 31.05.2023
Lino Blöchlinger (as, bsx), Flo Götte (g), Tobias Sommer (d)

Nach einer Pause folgte das herausfordernde Set. Lino Blöchlinger ist den Fussstapfen seines Vaters entwachsen. Dieser war ein umtriebiger Musiker zwischen Jazz und Neuer Musik, freier Improvisation, Musical, Kinderliedern, der mit Leuten wie Jacques Demierre, Urs Voerkel oder Hans Koch gearbeitet hat, einen „heiter-melancholischen Avantgardisten“ nennt ihn Tom Gsteiger treffend im Historischen Lexikon der Schweiz – Urs Blöchlinger wählte mit 40 den Suizid. Lino spielt das Altsaxophon des Vaters – und etwas vom heiter-melancholischen Temperament scheint seine Musik auch geerbt zu haben. Die Fermentierten zelebrieren ein wuchtiges Unisono-Spiel, das oft mehr mit Dada und irgendwelchen Avant-Formen von Rock (die ich nicht kenne) zu tun hat denn Jazz. Es gab zwar im Gegensatz zum ersten Set für alle drei solistische Passagen, auch ein oder zwei ziemlich melodische Stücke – doch im Ohr bleiben die geradezu reingehämmerten Unisono-Stücke, in denen Blöchlingers Bass-Saxophon, Göttes Baritongitarre (so stand im Programm, sie klang tatsächlich eher tief und Götte spielt sonst meist Bassgitarre – aber mit Gitarren kenne ich mich bekanntlich nicht gut aus – kann da anhand des Fotos jemand was dazu sagen?) und Sommers hartes Getrommel die Musik voranpeitschten – steif irgendwie, repetitiv, gleichförmig … und am Ende doch faszinierend. Zu fassen kriegte ich das aber im Konzert nicht, und auch jetzt nicht mit Worten.

PS: Auf der CD der Fermentierten von 2022 ist Valentin Baumgartner zu hören, der zwei Tage nach Abschluss der Sessions am 16. Juli 2021 mit 30 ei einem Unfall am Berg starb. Das Trio klingt auf der CD offener, verspielter, es gibt da auch leise Passagen, solistische Momente, in denen das Bass-Saxophon schön zu hören ist … das Set in Winterthur war im Vergleich ziemlich anders, klanglich weniger vielfältig, ungemein druckvoller. Wenn man in der Tube nach Blöchlinger sucht, findet man z.B. Aufnahmen aus dem Luzerner Mullbau, wo ich mal Matana Roberts solo gehört habe, oder aus dem Peppi Guggenheim, wo ich mit @vorgarten und @udw mal gesessen habe – und man findet was vom Projekt, das er der Musik seines Vaters gewidmet hat. (Full Disclaimer: Seitdem ich damals über den Auftritt von Erb/Baker/Rosaly in Willisau geschrieben hat, schickt mir Erb hie und da eine der Neuerscheinungen auf seinem Label, was immer eine Freude ist!)

Florian Arbenz feat. Nelson Veras & Hermon Mehari – Moods, Zürich – 09.06.2023
Hermon Mehari (t), Nelson Veras (g), Florian Arbenz (d)

Gestern dann das wohl letzte Jazzkonzert der Saison (weiter geht es voraussichtlich Anfang September mit Akira Sakata) – nochmal im Moods und mit der ersten Combo der „Conversations“, die Florian Arbenz 2020 gestartet hat. Die Musik dieses Trio ist seit der Aufnahme (2020, im April 2021 veröffentlicht) durch zehn oder zwanzig Gigs nochmal ordentlich gewachsen. Auch hier gab es viele ungewohnte Sounds zu hören. Das fängt mit der Besetzung an, geht aber weiter, indem Arbenz auch eine Cajón einsetzte (dazu gehörte wohl der grossse Verstärker hinter Mehari) und die Klänge seiner Becken und Trommeln durch eine Art kleine elektrische Steel-Drum ergänzte, durch Tamburine, die er (am Rand des Fotos zu erkennen) auch mal auf die Trommeln legte und das ganze mit einem Tuch dämpfte. Auch Glocken kamen zum Einsatz, Arbenz spielte ml mit den Fingern, wechselte zwischen Sticks, Besen und Mallets hin und her. Nelson Veras‘ akustische Gitarre, klassisch bzw. brasilianisch gespielt (mit einem überlangen Daumennagel an der rechten Hand, auch das sehr klassisch), war klanglich der Kitt, darunter legte Arbenz seine Beats, darüber erhob sich Hermon Mehari strahlend schöne Trompete, stets offen gespielt, mit einem runden aber zarten Ton, scheinbar mühelos und ohne Druck. Viele der gespielten Stücke stammten von Arbenz (er sagte regelmässig an, was gespielt wurde), aber auch Musik von Mehari war zu hören, ebenso ein paar Standards, darunter „Olha Maria“ von Jobim, das auch auf der CD zu hören ist und in dem Veras‘ beeindruckendes Spiel besonders zur Geltung kam.

Nach wohl zwanzig stellenweise etwas zäh, vielleicht übermässig strukturiert, manchmal gar ein wenig verkopft wirkenden Minuten spielte das Trio eine tolle Version von Monks „Hackensack“, und ab da öffnete sich die Musik, wirkte entspannter, fliessender. Die Notenständer blieben aber auch fortan für Mehari und Veras wichtig, auch wenn Mehari zu einem Solo anhob blickte er oft nach rechts (ist auf dem Foto ja zu sehen), vermutlich um die Changes zu gucken … es gab auch freiere Stücke (z.B. „Circle“, das auch auf der CD zu finden ist) und immer wieder klasse Grooves, Mehari zeigte immer wieder ein breites Lachen, wenn er die Trompete absetzte, während Veras meist ziemlich regungslos da sass, seine Expressivität sich ganz in seine Gitarre kanalisierte. Am Ende des Sets gab es eine lange, hervorragende Version von „Freedom Jazz Dance“, in der nochmal die Qualitäten aller drei hervortragen: Die sich stets ändernden federnden Beats von Arbenz, zupackend und doch nie hart oder undifferenziert. Die unglaublich schön klingende, farbenreiche und rhythmisch fast noch ausdifferenziertere Gitarre von Veras, der scheinbar mühelos mit der Time umspringen kann, in einem Moment hinter, dann vor, neben oder wie völlig frei über dem Beat schwebend, der aber im völlige Einverständnis der drei jeden Moment in eine neue Richtung gehe konnte. Darüber die Trompete von Mehari mit diesem so zarten wie wunderschönen Ton, singend melodisch, sich in Arpeggi und rasende Läufen steigernd, doch immer luftig, mit Atem und Zeit, mit einem Gespür für Pausen.

Ein Highlight folgte dann gleich noch als Zugabe, eine betörende Version von „Body and Soul“, in der Mehari über sich hinauswuchs, während Veras die unverwechselbaren Changes auf ganz eigene Art und wahrlich vollkommen an der Gitarre skizzierte und Arbenz sich im Intro völlig zurückhielt und danach bloss mit Besen leise begleitete. Eine wahre Freude, der zugleich ausgeklügelte und dennoch spontane Kammerjazz dieses Trios, der eben auch nicht wirklich Kammerjazz ist sondern einfach ein am Ende auf allen Ebenen, von der Organisation bis zur Intuition, überzeugendes Musizieren.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba