Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Zürich, Opernhaus – 02.06.2023

Lessons in Love and Violence
George Benjamin
(*1960)
Oper in zwei Teilen, Text von Martin Crimp
Schweizer Erstaufführung

Musikalische Leitung Ilan Volkov
Inszenierung Evgeny Titov
Bühnenbild Rufus Didwiszus
Kostüme Falk Bauer
Lichtgestaltung Martin Gebhardt
Video Tieni Burkhalter
Dramaturgie Claus Spahn

König Edward II Lauri Vasar
Isabel Jeanine De Bique
Gaveston/Fremdling Björn Bürger
Mortimer Mark Milhofer
Junge, späterer König Edward III Sunnyboy Dladla
Mädchen Nini Vlatković
Zeuge 1 / Sängerin 1 / Frau 1 Isabelle Haile
Zeuge 2 / Sängerin 2 / Frau 2 Josy Santos
Zeuge 3 / Irrer Andrew Moore

Philharmonia Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich

Was für eine phantastische Oper! In vielerlei Hinsicht genau das richtige Werk für unsere Tage. Blutrünstig zwar, dunkel und abgründig – doch eigentlich ein Stück über die Liebe. Oder: über die verlorene, die fehlende, die undenkbare, die abhandengekommene, die unmögliche Liebe. Und das – die verloren gegangene Liebe – scheint mir das grosse Problem unserer Zeit zu sein. Profit wird höher gewichtet als Menschenleben, die Staatsräson weicht die Staatlichkeit auf, es mangelt an Respekt, an Einsichtsvermögen und an so vielem mehr, vor allem an: Liebe. Das mag jetzt pathetisch gesprochen sein, vielleicht umso mehr, als es natürlich auch metaphorisch gesprochen ist: Wir finden es völlig in Ordnung, dass täglich Menschen im Mittelmeer ertrinken, so lange wir uns nur an der Mär der Besitzstandswahrung festklammern können. Wir empfinden es als Zumutung, als Vergreifen am heiligen Eigentum, wenn uns angesichts der drohenden Klimakatastrophe Vorschriften gemacht werden, gar Verzicht zum Thema wird. Wir eiern blind und wider besseres Wissen durch einen seit über drei Jahren anhaltenden „mass disabling event“ – und halten uns dabei auch noch für gute, soziale Menschen.

Teil 1: Die Liebe in Crimps Bearbeitung der Marlowe-Vorlage ist die des Königs zu seinem Liebhaber Gaveston (Szene 1). Der zu Beginn rational wirkende Mortimer, der sich im Schoss der Königin vergnügt, wird vom König auf Bitte Gavestons zum Nichts degradiert, verbannt. Während der König die Regierungsgeschäfte vernachlässigt und im Land Elend herrscht, kehrt Mortimer mit „Zeugen“ zur Königin zurück, die über die Zustände im Land berichten (Szene 2). Theater im Theater: Gaveston und der König warten auf die Aufführung, der König bittet Gaveston, ihm aus der Hand zu lesen: „…where is my brother Gaveston?“ – „You know where I am: inside your life. I’ve no life out of it. I live where you are looking: in the palm of your hand.“ Die Aufführung beginnt: Davids Klagelied auf Jonathan. Gaveston wird von Mortimer abgeführt (Szene 3). König und Königin schlaflos im Bett – warum er einen Menschen liebe, den alle Welt hasst: „Because he loved me more than all the world.“ (Szene 4).

Teil 2 (nach jeder Szene Vorhang, an dieser Stelle eine oder zwei Minuten Unterbruch, ohne dass das Licht angegangen ist): Nachdem der König sich als unrettbar entpuppt hat, schmieden Isabel und Mortimer neue Pläne. Der Sohn soll auf den Thron, doch erst muss er sich beweisen: ein Verrückter wird hereingeführt, dessen Katze ihm mitgeteilt habe, dass er König sei. Der Sohn will ihn – weil verrückt – nicht aburteilen, Mortimer erwürgt ihn, Isabel zwingt Edward III, zuzuschauen (Szene 5). Der König im Gefängnis, Mortimer besucht ihn, um die Krone zu holen. Ein Fremder erscheint, der König erkennt ihn als Gaveston; „how will I die?“ – der Fremde liest dem König aus der Hand. „But how will die? … I said how will I die? … I said tell me – tell me – how am I going to die?“ – „How? Don’t you see: the thread is already broken. You are already dead.“ – „No. Why do I feel nothing?“ – „The dead can’t feel.“ (Szene 6). Isabel wird vom neuen König zu einer Theateraufführung gebeten. Gespielt werde ein Stück über eine Frau und einen Mann, die einen König ermordet und das Kind der Frau auf den Thron gesetzt hätten: „where is Mortimer?“ – „but from under the earth echoes and and echoes out of the king is father’s agony. The child learns and offers dead man Mortimer no mercy.“ – „I said to you where is Mortimer?“ – diesem werde sein Verbrechen in den Körper geritzt, und nachdem gelesen habe, würden ihm die Augen ausgestochen: „With a scene then of a human being broken and broken by the rational application of human justice our entertainment begins.“ (Szene 7 – das die Schlussworte).

Als Bühne gab es den auf den Fotos sichtbaren Raum mit den grünen psychedelischen Mustern, nicht als Innen- oder Aussenraum erkennbar, als Requisiten ein Bett (Szenen 1 und 4), ein Tisch mit Stühlen für die Königin und ihre beiden Kinder (Szene 2 – die Tochter bleibt stumm) sowie eine bis drei Theatertribünen (Szenen 3 und 5-7). Alles sehr einfach gehalten und vollkommen stringent aufgeführt. Wie in einem Brennglas wird alles gebündelt: Plot und Musik finden perfekt zusammen, die Musik bleibt dabei konventionellen Spieltechniken verhaftet, doch aus dem Gaben kam eine solche Menge an raffinierten Klängen und Einfällen, dass das wenigstens so betörend wirkte wie die grüne Bühne. Das Orchester spielte in grosser Besetzung auf: die Bässe konnte ich nicht alle sehen, aber sonst gab es bei den Streichern 10-8-8-8. Ich tippe auf 6 Bässe, dazu bis zu vier Bläser pro Instrument – bei den Klarinetten z.B. auch Alt- und Bassklarinette, am dritten Fagott auch Kontrafagott usw.), eine ganze Batterie an Schlagwerk, zwei Harfen, ein Cimbalom und eine Celesta.

Das ist obsessive Musik, deren Sog man sich nur schwer entziehen kann – dabei kommt sie ohne untergründiges Murmeln aus, ist immer transparent und durchhörbar – und wie Volkov im Gespräch im Programmheft meint wohl an Debussy geschult. Da wird raffiniert geschichtet, kleinste Motive und Bewegungen werden hörbar. Tutti gibt es nur wenige, das Orchester übernimmt aber mit kurzen Zwischenspielen zwischen den Szenen selbst fast eine Rolle als Akteur ein. Das Ensemble überzeugte mich ebenfalls völlig. Statt weniger Rollen und eines Chores wie bei Benjamins früheren Opern gibt es ein paar Rollen mehr und einen stummen Chor, aus dem die drei Zeugen und zwei Frauen sich herauslösen – vielleicht im Gegenzug bleibt die Königstochter deshalb stumm? Die Besetzung war perfekt, und dass so viele PoC im Cast zu finden waren, ist natürlich in Sachen „Oper der Stunde“ direkt noch ein grosser Pluspunkt. Bereits gehört habe ich soweit ich es rekonstruieren kann bisher nur Vasar (als Amfortas in „Parsifal“) und Bürger (als Frédéric in der „Lakmé“ im April) – wie De Bique, Milhofer, Dladla wussten sie zu überzeugen. Und auch die drei kleineren Rollen waren hervorragend besetz – De Bique, Haile, Santos und Vlatkovic gaben ihre Hausdebüts.

Um zu meinen einleitenden Worten zurückzukommen: Da gibt es einen tragischen König, der seiner Welt so ungeschützt begegnet, dass er gar nicht in der Lage scheint, seine Rolle auszufüllen. Mortimer, der Gegenspieler, wirkt zunächst als eine Art rationaler Gegenpart – er kämpft gegen das Dekadente des Königs. Und gegen die Liebe. Das Stück beginnt mit seinen Sätzen: „It’s nothing to do with loving a man. It’s love full stop that is poison.“ Im Lauf des Stückes wird er von der „korrekte[n] konservative[n] Person“ zu einem „Maniac, ja zu einem Faschisten“ (Benjamin im Programmheft). Passend dazu Titov (im gleichen Gespräch wie Volkov, Dramaturg Claus Spahn sprach mit ihnen gemeinsam): „Die Materie, die behandelt wird, ist tief und existenziell. Ich möchte, dass sich das auch im Raum spiegelt. Er sollte die Offenheit haben, Unerklärliches und Nichtfassbares zu beherbergen. Und er muss die richtige Temperatur haben. – [Spahn:] Was ist die richtige Temperatur? – Glühend heiss und frostig kalt.“ Und das ist in meinen Augen und Ohren perfekt gelungen. Ein grossartiger Abend, von A bis Z überzeugend, und am Ende überwältigend gut.

(Auf den Fotos von links: Mädchen, Zeugin 1 oder 2, Edward III, Mortimer, Edward II, [Dirigent Volkov,] Isabel, Gaveston, Zeugin 2 oder 1, Zeuge 3/Verrückter.)

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