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Zürich, Kleine Tonhalle – 25.05.2023 – Kammermusik-Lunchkonzert
Ilios Quartett
Thomas García Violine
Seiko Périsset-Morishita Violine
Paul Westermayer Viola
Anita Federli-Rutz Violoncello
ALEXANDER BORODIN «Russisches Scherzo» D-Dur für Streichquartett
TOSHIO HOSOKAWA «Blossoming» für Streichquartett
BEDRICH SMETANA Streichquartett Nr. 1 e-Moll «Aus meinem Leben»
Das donnerstägliche Lunchkonzert – mein zweites und letztes in dieser Saison, kein Format, das ich sonderlich schätze, aber ich bin zu den zwei Streichquartett-Konzerten, bei denen jeweils ein Stück von Hosokawa auf dem Programm stand, und das hat sich dieses Mal sehr viel mehr gelohnt als beim ersten Besuch, als es danach das Forellenquintett zu hören gab. Einerseits, weil das Ilios Quartett seit 1997 besteht. Gegründet hat es die Cellistin Anita Federli-Rutz, wie ihre Kolleg*innen Mitglied des Tonhalle-Orchesters, García übernahm nach 24 Jahren 2021 (sein Vorgänger wurde pensioniert und hörte auch im Quartett auf), Périsset-Morshita ist seit 1998 dabei, Westermayer ist seit 2020 dabei, und es scheint auch auf dem Bratschen-Posten nur wenige Wechsel gegeben zu haben (der erste Bratschist blieb 15 Jahre, zwischen 2012 und 2020 steht im Programmheft nichts). Andererseits war auch das Repertoire heuer sehr viel ansprechender: Borodins Scherzo zum Einstieg war schon der Hammer! Komponiert hat er es für eine der freitäglichen Soiréen, die der Amateurbratschist und Mäzen Mitrofan Belaieff in St. Petersburg veranstaltete. 1899 erschienen zwei Sammlungen mit Stücken aus diesen Soiréen unter dem Titel „Les Vendredis“. Dabei ging es neben oder vor der Musik auch um „das Abendessen, das immer überreichlich und von ausgiebigem Pokulieren begleitet war“ – ein Neuzugang in meinem Wortschatz (bechern, zechen, von „poculum“, lat. Becher). Borodins Stück aus dem Jahr 1882 stützt sich auf ohrwurmartige Volksweisen, ausser dem langsamen Mittelteil ist es trotz oder wegen seines 5/4-Takts überaus mitreissend.
Hosokawas Meditation über eine sich öffnende Lotusblüte entstand 2007 und ist wohl an der Oberfläche eins seiner für unsere Hörgewohnheiten zugänglicheren Stücke. Mit flirrenden Tremoli, sich verdichtenden Glissandi und einer für meine Ohren leicht nachvollziehbaren melodischen Entwicklung schildert Hosokawa, wie die Pflanze sich einen Weg an die Wasseroberfläche bahnt und sich dann an der Sonne labt. „Die Blume und ich, wir sind wie eins; das Erblühen steht auch für meine innere Entwicklung“ (Hosokawa, zit. nach Programmheft).
Programmmusik ist dann auch das längste Werk des Konzerts, vor dem die vier sich etwas länger hinter die Bühne zurückziehen (und während dem sie ihre Instrumente nachstimmen), das erste Streichquartett von Bedrich Smetana, in dem er 1876 einen Versuch unternahm, seinen (natürlich noch nicht abgeschlossenen) Lebenskreis darzustellen. In den Noten gibt es gemäss dem Programmheft-Text (Heidi Rogge) Erläuterungen wie folgende (alle zum Kopfsatz): „Hang zur Kunst in meiner Jugend, Vorherrschaft der Romantik, unaussprechliche Sehnsucht nach etwas, aber zugleich wie eine Warnung vor dem Unheil, das mir bevorstand“. Smetana verlor sein Gehör, konnte nicht mehr dirigieren, komponierte aber weiter: „Es folgten Jahre der finanziellen Not, Krankheit und Vereinsamung“ (Rogge). Im Scherzo (mit Trio) geht es tänzerisch zu und her, im Largo erinnert er sich an die schwärmerische Liebe für seine spätere Frau – und im letzten Satz wird dann der Tinnitus, die sich andeutende Ertaubung, musikalisch dargestellt. Doch düster oder traurig wirkt das nicht, dafür sehr expressiv und reich an Melodien, Harmonien und Rhythmen. Gefiel mir sehr gut, dieses Programm, auch wenn ich das Ilios Quartett jetzt nicht direkt perfekt fand (ohne dass ich das genauer formulieren könnte, dazu bin ich in Sachen Streichquartette nicht tief genug in der Materie – aber diese unglaubliche Faszination, die sich bei den allerbesten Formationen gerade im Konzert einstellt, fehlte mir).
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