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Zürich, Opernhaus – 19.05.2023
Orphée et Euridice
Tragédie (Drame-héroïque) in vier Akten von Christoph Willibald Gluck (1714-1787)
Bearbeitung von Hector Berlioz (1859), Libretto von Pierre-Louis Moline nach Ranieri de’ Calzabigi
Musikalische Leitung Stefano Montanari
Inszenierung Christoph Marthaler
Regiemitarbeit Joachim Rathke
Ausstattung Anna Viebrock
Lichtgestaltung Martin Gebhardt
Choreinstudierung Ernst Raffelsberger
Dramaturgie Malte Ubenauf, Kathrin Brunner
Orphée Olga Syniakova
Euridice Chiara Skerath
L’Amour Alice Duport-Percier
Selige und unselige Geister Sebastian Zuber, Graham F. Valentine, Bérengère Bodin, Marc Bodnar, Raphael Clamer, Liliana Benini, Bernhard Landau
Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich
Das fühlte sich fast nostalgisch an gestern – mehr als die verstreuten Marthaler-Theateraufführungen (und die eine Oper, der grossartige „Freischütz“ in Basel vor ein paar Monaten), die ich gesehen habe in den 20 Jahren oder so, seitdem er aus Zürich verjagt wurde. Das hatte viel mit der typischen Bühne von Anna Viebrock zu tun, aber auch mit dem Slow-Motion-Slapstick (einer der „Geister“, die Marthaler dazu erfunden hat, öffnet zum Beispiel mehrmals eine Türe und schliesst sie wieder, ohne je einzutreten), dann gibt es so eine ähnliche Szene mit einer Urne – wir finden uns ja im Wartesaal der Unterwelt oder so – , und es gab von Seiten der Geister auch einige komische Akrobatik: mehrmals robben, kriechen, zucken und ruckeln sie auf der Bühne hin und her.
Amor (im Bild im grünen Kostüm) ist nicht völlig von den Geistern abgegrenzt, Eurydice (im hellblauen Kleid) bleibt dafür lange ein Gespenst (huscht mal schnell durchs Bild, tritt aber erst gegen Ende wirklich auf), Orphée (mit den weissen Schuhen zwischen Amor und dem Dirigenten) ist hingegen fast immer da und prägt das Stück, mal von hinten (da standen die längste Zeit Möbel, Altersheim-Cafeteria, Bahnhofscafé, sowas – Marthaler/Viebrock halt), mal im Zentrum. Der Chor bleibt das ganze Stück hindurch unsichtbar – eine Pandemie-Inszenierung, für die Chor und vermutlich damals auch Orchester aus dem Probegebäude zugespielt wurden – und es auch wenig räumliche Nähe zwischen den drei Figuren gibt. Wobei letzteres überhaupt nicht aufgefallen wäre.
Der ewige Mythos – er ist auch heute brandaktuell, als Widerstreit zwischen Vertrauen und Kontrolle. Den Vertrauensverlust, wenn ich mich mal kurz an die grosse Zeitdiagnose wagen darf, scheint mir eins der die Gegenwart prägenden Themen zu sein. Ein höchst politisches Thema. Und das Private ist und war es schon immer: politisch – also auch dann, wenn Eurydice also fast umkehrt und wieder in die Unterwelt zurückkehrt (das tut sie dann in Kreneks Adaption, nicht? Die kenne ich noch gar nicht). Das Happy End von Gluck wirkt aufgesetzt: Orpheus bzw. Orphea dreht sich um, Eurydice stirbt, Amor greift ein, als Orpheus sich erdolchen will und lässt, weil Orpheus seine Standhaftigkeit und seine Treue (aber was ist mit seinem Gottvertrauen?) bewiesen habe, Eurydice ein zweites Mal auferstehen – mit einem breiten Wischer unsanft angestupst, als sie nicht will … es wird gegen Ende saubergemacht, die Möbel werden weggeräumt. Ob das ein Happy End sei, fragt Marthaler im Gespräch im Programmheft zurecht: „‚Und sie lebten glücklich bis zu ihrem Ende …‘ Ist das ein Happy End? Ich bin mir nicht so sicher. Da kann ich mit der nüchternen Feststellung ‚und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ schon deutlich mehr anfangen. Interessant am Happy End ist vor allem das zweite Wort: End. Was kommt danach? Es kommt ja immer noch etwas. Insofern gibt es auch in unser Arbeit kein Happy End. Weil es kein End gibt. Es endet nicht. Jedes Happy End ist dazu verdammt, dass es kein Ende hat. Unsere Inszenierung ist also auch ein Wiederauferstehungstraining. Wann und warum darf man wieder auf(er)stehen, nachdem sich jemand umgeblickt hat, der sich nicht umblicken durfte? Und glückt so etwas verlässlich? Das ist eigentlich ein sehr optimistischer Ansatz.“ – Um diese End-Geschichte zu verdeutlichen wohl rezitiert der eine sprechende Geist, Graham Valentine (immer eine erfreuliche Wiederbegegnung!) kurz vor Schluss, vor dem musikalischen Ausklang, Zeilen aus T.S. Eliots „The Hollow Men“: „This is the eaad land / This is cactus land / Here the stone images / Are raised, here they receive / The supplication of a dead man’s hand / Under the twinkle of a fading star. // Is it like this / In death’s other kingdom […]“.
Man kann den dunkel schattierten Abend durchaus optimistisch deuten. ich hatte in den ca. 95 Minuten nicht das Gefühl, dass der Funke in den Saal übergesprungen sei – doch der Schlussapplaus war intensiv, er war warm und laut. Musikalisch war das betörend schön, mich zog die Musik Glucks nach wenigen Minuten immer stärker in den Bann. Im Graben Philharmonia in recht grosser Besetzung, doch es wurde gar nicht laut musiziert, im Gegenteil. Meine Verwunderung, dass das Orchester nicht in seinem Alte-Musik-Gewand als La Scintilla daherkam, verging bald. Neben der sehr präsenten Harfe gab es im Graben auch einen Hammerflügel (für einmal sass ich nicht links, konnte diesen leider nur knapp sehen, wenn ich mich weit nach vorn bog, dafür hatte ich seit langem wieder einmal die Holzbläser und die ersten Geigen im Blick). Dennoch klappte die Balance nicht immer so gut, die Stimme von Olga Syniakova (die Orphea) trug nicht immer über das Orchester hinweg, auch wenn dieses nicht laut spielte (und erst recht nicht flächig). Alice Duport-Percier und Chiara Skerath hatten damit keine bzw. weniger Mühe (sie waren beide bei der Lockdown-Aufzeichnung in der Saison 2020/21 schon dabei, Aufführung wird aktuell als Premiere behandelt, weil es ausser der Aufzeichnung bisher nichts gab). Dennoch: für sich genommen drei wunderschöne Stimmen, im Zusammenklang auch gut. Es passte also vieles, aber nicht alles. Am wichtigsten jedoch: das Regiekonzept ging auf. Marthalers Ziel, alles auf die Musik hin zu verengen, wurde wirklich aufs Schönste sichtbar: all der Slapstick, all die Verrenkungen der Geister wirkten – verblüffenderweise, möchte ich sagen – wirklich nicht als Ablenkung sondern ergaben im Endeffekt eine Art Brennglas, unter dem Glucks Stück umso mehr zum Glänzen kam.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba