Antwort auf: Tenor Giants – Das Tenorsaxophon im Jazz

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Sonny Rollins @80 – am 7. September 1930 kam Walter Theodore „Sonny“ Rollins in New York City zur Welt. Vol. 2 der „Road Shows“ beginnt mit einem hervorragenden „They Say It’s Wonderful“ vom 1. Oktober 2010 aus Sapporo, Russell Malone spielt ein feines Gitarrensolo zum Einstieg, Bob Cranshaw, Kobie Watkins und Sammy Figueroa sind dabei – und Watkins spielt hier länger hervorragende Fours mit Rollins. Als Ausklang des Albums dient ein nicht mal dreiminütiges „St. Thomas“ vom 7. Oktober aus Tokyo. Dazwischen gibt es knapp 50 Minuten vom Konzert, das Rollins am 80. Geburtstag im Beacon Theatre in seiner Geburtsstadt gab. Zu diesem Anlass konnte natürlich nicht einfach nur die Working Band aufspielen: die geladenen bzw. auf der CD dokumentierten Gäste sind Roy Hargrove (t), Ornette Coleman (as), Jim Hall (g), Christian McBride (b) und Roy Haynes (d) – neben Malone, Cranshaw, Watkins und Figueroa.

Francis Davis meint in den Liner Notes, über das Highlight des Albums habe man noch Monate später gesprochen: die allererste Begegnung von Rollins mit Ornette Coleman. Los geht es im Trio mit Christian McBride und dem Überraschungsgast (das 2007 schon in der Carnegie Hall aufspielte, s.o.) – und nach seinem ersten Solo, nach viereinhalb Minuten kündet Rollins noch einen Überraschungsgast an, jedoch ohne seinen Namen zu nennen: „somebody told me that there’s somebody in the house that is going to say happy birthday to me, and he’s someplace backstage and he’s got a horn, and I wish he’d come out now – he’s here … he’s here“. Coleman lässt sich von da an noch fast vier Minuten Zeit, in denen Rollins nicht etwa einfach die Rhythmusgruppe riffen sondern spielt gleich selbst noch ein zweites, noch besseres und eigenwilligeres Solo – zu der überaus wachen Begleitung von McBride/Haynes. Grosser Applaus, als das Publikum den Gast erkennt, der bei Minute acht auf die Bühne kommt und Rollins natürlich erstmals zu Ende spielen lässt. Coleman muss dann erstmal sein Blatt zähmen, doch nach ein oder zwei Chorussen gibt er dem Stück eine neue Richtung – seine Richtung. Und er spielt ebenfalls ein hervorragendes Solo voller eigenwilliger Linien – Davis: „simultaneously reminiscent of Texas hully-gully and Mozart and Brahms“. Rollins kann danach natürlich nicht still bleiben, spielt nochmal, dann Ornette wieder (grossartig, finde ich – auch wie McBride/Haynes sich einlassen können), und Rollins zum Schluss noch ein viertes Mal. Kein Wunder, dauert das über 20 Minuten! Rollins spielt hier sehr frei auf – nicht erst, nachdem Ornette das Szepter übernommen hat, sondern bereits im öffnenden ersten seiner vier Soli: als nehme er bereits voraus, was noch folgen sollte.

Davor gibt es Jim Hall – Rollins kündet ihn als „the favorite guitar player of all the other guitar players“ an – mit der Rhythmusgruppe (Cranshaw, Watkins, Figueroa) und „In a Sentimental Mood“ – Hall spielt das Thema und Cranshaw legt eine wunderbare Begleitung darunter – Rollins begnügt sich leider damit, die Band anzusagen, denn zu einer Wiederbegegnung der beiden kommt es hier (zumindest auf den Stücken auf der CD) leider nicht. Nach dem irren Lauf mit Coleman folgen noch zwei Stücke vom Konzert, beide Mit Roy Hargrove und der ganzen Rollins-Band (also Malone plus die drei gerade genannten). „I Can’t Get Started“ ist seit Bunny Berigan ein Paradestück für Trompeter, ähnlich „Body and Soul“ für Saxophonisten – Hargrove stellt das Thema vor, wunderbar begleitet von Malone, Rollins hält sich fast ganz zurück, schattiert gegen Ende ein wenig, übernimmt dann für ein Solo, das nah an der Melodie von Vernon Duke bleibt, aber den „cry“ nicht missen lässt. „Rain Check“ ist dann ein Romp mit Soli für Malone und die Bläser, die am Ende in einen langen Austausch (ohne Drums) treten. Sehr schön, und auch eine Erinnerung daran, dass Rollins einer der ersten modernen Jazzer war, die Strayhorns Musik spielten (das Stück ist auf „Worktime“ zu hören, einem Prestige-Album). Das erwähnte kurze „St. Thomas“ in einem sehr entspannten Tempo und mit Band-Intros (ohne Hargrove, dafür mit japanischen Dankesworten) fügt sich nahtlos an. Die Stücke sind auf den vier Volumen von „Road Shows“ öfter mit Crossfades montiert und Ansagen für folgende Stücke sind ans Ende bzw. in den Applaus des Vorgänger-Stücks montiert.

Es gibt danach noch eine Coda von 2012: auf Vol. 3 der „Road Shows“ finden sich zwei Stücke aus Marseille, 25. Juli 2012, Palais Longchamp. Die Band ist hier wieder um Clifton Anderson erweitert und hat mit Peter Bernstein einen letzten neuen Gitarristen. Das 12minütige „Patanjali“ ist ein irrer Lauf: ein kleines rhythmisches Motiv, das repetiert wird, bis daraus halt ein Stück wird („Sonnymoon“ ist im Vergleich richtiggehend ausgereift) – immerhin gibt es eine Art Bridge. Und es gibt vor allem einen irren Beat von Cranshaw/Watkins/Figueroa – Figueroa spielt trommellastiger als seine Vorgänger und das kommt hier richtig gut (er konzentrierte sich stark auf die Congas, die er hier auch spielt). Unter Rollins rifft Anderson weiter, Bernstein fügt sich gut ein – und wie sich Rollins mit dem Beat verzahnt, ist echt irre.

Das Stück wurde in den letzten Jahren immer wieder gespielt, es gibt ein paar Amateurvideos davon, die trotz schlechter Qualität eine Idee von der Power geben, mit der die Band mit ihrer phantastischen Drum-Section damals unterwegs war – hier beim Detroit Jazz Festival am 31. August 2012.:

Der Closer der CD, „Don’t Stop the Carnival“, stammt ebenfalls vom Konzert im Palais Longchamp. Vom Stück gibt es fast nur Live-Aufnahmen: die inzwischen natürlich bestens bekannte Studio-Einspielung von 1962 kam nicht mit dem Rest des Albums „What’s New“ heraus sondern erstmals 1973 auf dem französischen LP-Twofer „Vol 3: ‚What’s New?‘ / Vol 4: ‚Our Man In Jazz'“. Rollins klingt hier, ca. sechs Wochen vor seinem 82. Geburtstag, so gut wie eh und je – und das Stück, das hier als Zugabe am Ende der CD steht (das Publikum klatscht mit), beschliesst dann ja in der Version vom 9/11-Konzert aus Boston auch Vol. 4. Das passt schon, dass am Ende von Rollins beiden letzten Alben (2014 und 2016 erschienen) eins seiner signature tunes steht, in dem der karibische Faden, der sich durch seine Musik hindurchzieht, gewürdigt wird.

Auf Vol. 4 gibt es aus Marseille noch „Professor Paul“ und direkt danach das am 30. Oktober 2012 in Prag aufgenommene „Mixed Emotions“ – ein Duo mit dem Gitarristen Saul Rubin. „Professor Paul“, so Ted Panken in den Liner Notes, ist tatsächlich ein damals erst grad komponiertes und Paul Jeffrey gewidmetes neues Rollins-Stück, „a highly abstracted contrafact of ‚Without a Song'“, das Rollins wiederum 1961 mit Jim Hall eingespielt hat, der Nachbar und Mentor von Peter Bernstein war, der hier ein bescheidenes, elegantes Solo spielt, bevor Rollins übernimmt – und sich einmal mehr mit dem hier ziemlich kargen Beat von Watkins/Figueroa verzahnt. Das ist wirklich hervorragend – und zeigt, dass Rollins‘ Rückzug (der erst 2014 offiziell erklärt wurde, aber soweit mir bekannt gab es nach 2012 keine Auftritte mehr) wohl zum richtigen Zeitpunkt erfolgte. Jedenfalls nicht zu spät.

Der Schlusspunkt, „Mixed Emotions“, ist eine kurze Rubato-Ballade mit Saul Rubin an der Gitarre. Rollins ist bei 1:17 fertig, Rubin spielt noch ein paar Sekunden weiter), die Rollins seit 1951, als er die Version von Dinah Washington in der Jukebox von Al’s Luncheonette an der St. Nicholas Avenue hörte, im Kopf herumgespukt sei. 61 Jahre später nimmt er das Stück zum ersten – und letzten – Mal auf. Was für ein Ton! „I never had an opportunity to do it, though I wanted to. I like Saul’s playing very much, and he enhanced my memory of the tune“, zitiert Panken Rollins in den Liner Notes. Ein kurzer Abschied, der durchaus wehmütig stimmt, angesichts der unglaublichen Laufbahn, die hier ihr Ende nimmt.

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