Antwort auf: Tenor Giants – Das Tenorsaxophon im Jazz

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gypsy-tail-wind
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Rollins in den Neunzigern – das geht relativ schnell, da ich nur ein Album habe, „Sonny Rollins +3“. Der Titel spielt auf „Plus 4“ an, das 1956er-Album, das Rollins mit der Rhythmusgruppe von Miles Davis und im Stück „Tenor Madness“ auch dem Saxophonisten der Davis-Band, John Coltrane, aufgenommen hat. Ich glaube, angesichts der bei „Falling in Love“ gehörten neu gefundenen Klarheit finde ich es gut möglich, irgendwo dazwischen das Einsetzen des „Spätwerks“ anzusiedeln. Dafür kann man hier auch vom Klangbild her argumentieren, denn vom E-Bass abgesehen ist das as klassisch as it gets: Tommy Flanagan sitzt am Klavier, Bob Cranshaw spielt die Bassgitarre, Al Foster sitzt am Schlagzeug – bei fünf der sieben Stücke hier, die Anfang Oktober 1995 in den Clinton Recordings Studios in NYC aufgenommen wurden. Zwei Stücke stammen von Ende August und wurden mit Stephen Scott, Cranshaw und Jack DeJohnette im selben Studio eingespielt. Alles Rückkehrer bzw. bekannte Gesichter aus der Road Band, ausser den Pianisten: der eine neu dabei (auch in der Tour-Band), der andere ein alter Weggefährte, der leider nur gelegentlich mit dabei war. Leider, weil ich ihn mit seiner ähnlich klaren Spielweise tatsächlich als eine perfekte Ergänzung zu Rollins höre. Das gilt für „Saxophone Colossus“ ebenso wie hier, und auch für die beiden Stücke auf „Falling in Love with Jazz“.

„What a Difference a Day Made“, als Walking-Ballade gespielt, ist der Opener (irgendwie hab ich mir den Song als „… a Day Makes“ gemerkt) und Rollins spielt das bestimmt und zugleich irgendwie überlegen, wahnsinnig entspannt. Nach dem Klaviersolo gibt es Fours mit Foster, Cranshaws Bass klingt so, dass seine Aussagen im Interview mit Ethan Iverson sofort einleuchtet (ich verlinke es hier mal wieder, die betreffende Passage ist ganz am Ende zu finden). Mit „BiJi“ folgt ein Calypso, in dem Cranshaw die Resonanz und den Nachhall des elektrischen Instruments ausnutzt, um ihn im Two-Beat-Groove lang klingen zu lassen – und dazwischen umso effektiver kleinteiligere Läufe einstreut. Rollins glänzt in solchen Stücken eh fast immer und tut das auch hier. Phrase für Phrase entwickelt er ein überaus logisch klingendes Solo, verzahnt sich dazwischen immer wieder mit der Rhythmusgruppe, in der Foster zunehmend Akzente setzt und verdichtet (er tut genau all das, was mir bei den Auftritten von Tony Williams mit Rollins fast völlig fehlt). Nach fünf Minuten Rollins ist Flanagan an der Reihe und dann kann der Leader sich ein second helping nicht verklemmen. In „They Say It’s Wonderful“ ist dann die andere Band zu hören. Das Tempo ist ziemlich rasch, Cranshaw walkt, Rollins spielt das Thema, Scotts Comping wirkt sofort anders (auch, weil die Balance bei der Aufnahme anders ist) aber nicht weniger klar als das von Flanagan. Rollins fasst sich kurz und Scott übernimmt bald mit einem tollen Solo, in dem der Unterschied zu Flanagan gut hörbar wird: er nutzt andere Voicings, schrammt ein paar Male am Funk vorbei, verdichtet – und DeJohnette geht sehr schön mit, steigert dann beim Wiedereinstieg von Rollins noch mal, der sich sich zum Thema zurück rifft – toll!

Wir sind hier nicht mehr im LP-Zeitalter, es gibt 56 Minuten Musik und in der Mitte, zwischen zwei Dreierblöcken, eine kurze Version von „Mona Lisa“, in der Rollins nachträglich noch ein paar Glocken drübereingespielt hat. Auch hier ist das Tempo eher rasch, Cranshaw spielt Halftime und trägt das Stück, während Flanagan eine recht karge Palette mitführt und Foster erst allmählich Präsenz zu markieren beginnt. Das hier ist vielleicht (wie im Opener) die abgeklärte Version (eben: altersweise usw.) von den schamlos-kitschigen (und doch sublimen – wer kann das denn sonst im Jazz so gut verbinden?) Balladen-Tearjerkern aus den zwei Jahrzehnten davor. Rollins ist jedenfalls umwerfend, sein Ton wunderbar gekörnt und klasse eingefangen. „Cabin in the Sky“ folgt, wieder mit Scott und ergo im anderen Klangbild – gleich noch eine Ballade. Der direkte Vergleich ist spannend: Scott spielt mehr, anders, ohne zuzudecken, DeJohnette setzt seine Akzente ebenfalls recht anders als Foster, etwas flächiger vielleicht, gewichtiger und druckvoller auch (bei beiden kommt aber nie der „Rock-Drums“-Eindruck von Williams auf). Rollins lässt nach dem Thema erstmal Scott ran und kehrt dann zurück – und vielleicht kann man hier ein paar Anklänge an den Balladenstil des mittleren Coltrane (also den von „Ballads“, „Coltrane“ usw.) heraushören, wenn man will? Es wirkt fast so, als würde Rollins sich recht lange zurücknehmen, das Horn nicht so voluminös klingen lassen, wie er das meist tut. Doch dann fährt er einmal in die Tiefe runter – und da ist er gleich, der unverwechselbare Rollins-Sound. Mit „H.S.“ gibt es dann einen Blues, in dem Rollins und auch Flanagan etwas funky werden, Foster spielt einen leichten aber sehr beweglichen, abwechslungsreichen Beat drunter – und der Leader gönnt sich hier wieder ein second helping, in dem er ein paar Growls einstreut. Zum Ausklang gibt es dann einen letzten Standard (der fünfte, nur der Calypso und der Blues sind Originals hier), „I’ve Never Been in Love Before“. Hier wird nach einem langen unbegleiteten Intro von Flanagan nochmal der vom Davis Quintett der Fünfziger (zu dem Rollins ja auch ab mal gehörte, einfach leider nie offiziell dokumentiert – heute ist der 100. Geburtstag von Red Garland) patentierte Two-Beat-Groove eingesetzt, doch im Solo fällt die Rhythmusgruppe schnell in einen 4/4 – Flanagan compt hinter Rollins mal sehr fein, dann mit sperrigen Akkord-Blöcken. Der Leader rauht seinen Ton bald auf, doch dann ist erstmal die Band dran. Das Stück ist mit Abstand längste, über zwölf Minuten (der Opener dauert aber auch schon zehn Minuten). Flanagan, Cranshaw und Foster spielen ihre Soli, danach kehrt Rollins für den Abschluss zurück und setzt nochmal einen drauf.

Für mehr Rollins aus den Neunzigern müsste ich meine Harddisks durchforsten – Live-Mitschnitte sind von ihm in grosser Zahl im Umlauf, aber wie gesagt, so tief mag ich da gerade nicht einsteigen. Auf der vierten und letzten „Road Shows“-CD ist aber mit „Keep Hold of Yourself“ noch ein Stück aus der Dekade dabei, im Oktober 1996 in Paris aufgenommen mit Clifton Anderson, Stephen Scott, Bob Cranshaw, Drummer Harold Summey Jr. und dem ersten von zwei Percussionisten, die seit den Neunzigern praktisch immer zu Rollins‘ Band gehörten, Victor See Yuen. Das Stück ist ein modaler Swinger, er erstmals auf dem „Next Album“ zu hören war – und Stephen Scott spielt ein dreiminütiges, umwerfendes Solo zum Einstieg. Er zitiert Gillespies „Bebop“ und den Klassiker „I Found a New Baby“ – und übergibt dann an Rollins, der gleich zur Sache kommt. Rollins wird in den Liner Notes so zitiert: „We played that song a lot, and I listened to several interpretations. This one clicked because of the personnel. I liked the groove.“ Und ja, den Groove finde ich hier ebenfalls klasse, auch wen mir „Harold Summey’s crisp Philly Joe Jones-isms“ (Ted Panken in den Liner Notes) eigentlich nicht so gefallen – für den Groove passen sie perfekt!

Davor gab’s Anfang der Neunziger mit Here’s to the People“ (1991) noch eine Art Schlusspunkt mit dem älteren Personal (Harris an der Gitarre, Soskin am Klavier, aber auch schon Clifton Anderson, zudem neben Foster und DeJohnette – die wie Cranshaw weiter dabei blieben – auch Steve Jordan am Schlagzeug und Roy Hargrove an der Trompete. Und „Old Flames“ (1993) ist ein Album, das ich vielleicht mal noch nachholen werde. Neben Anderson, Flanagan (noch ein ganzes Album mit ihm am Klavier also), Cranshaw und DeJohnette ist da nämlich ein „brass choir“ dabei, für den Jimmy Heath Arrangements geschrieben hat – und bei Cranshaw steht „electric and acoustic bass“. 1998 folgte dann noch „Global Warming“, auch das wohl ein recht gutes Album (nach allem, was ich gehört habe, selbst gehört habe ich es bisher auch nicht), auf dem wieder mal zwei Line-Ups dabei sind, das eine ein Quartett mit Scott, Cranshaw und Idris Muhammad (das andere die damalige Road Band mit Anderson, Scott, Cranshaw, Drummer Perry Wilson und See Yuen).

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