Antwort auf: 2022 & 2023 & 2024: jazzgigs, -konzerte, -festivals

#12056841  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 67,178

Steve Coleman & Five Elements – Moods, Zürich – 02.05.2023
Steve Coleman (as), Jonathan Finlayson (t), Rich Brown (elb), Sean Rickman (d)

Das war ein phänomenaler Abend im Moods letzten Dienstag! Ähnlich gut gefüllt wie bei Frisell die Woche davor – aber mit viel später eintrudelndem Publikum. Mein Begleiter und ich landeten wieder auf denselben Plätzen, erste Reihe ganz links, was gut war, ziemlich direkt vor Coleman. Allerdings war Rickman zu meiner Verblüffung gar nicht so laut – obwohl er ordentlich zulangt und sein Ding über die zwei Stunden ziemlich kompromisslos durchgezogen hat (vielleicht wär’s mir von vorne rechts tatsächlich anders vorgekommen?). Angekündigt war ein einziges Set von ca. 90 Minuten, aber am Ende wurden daraus knapp zwei Stunden. Und die hatten es wirklich in sich.

Coleman fing solo an, spielte eine sich allmählich verändernde Phrase, etwas etüdenhaft, mit einem rhythmischen Stottern in den Pausen, irgendwann stiess Finlayson mit einzelnen Tönen dazu, dann stiegen Brown (er ist nicht Anthony Tidds Nachfolger, oder?) und Rickman ein. Coleman konstruierte seine Soli meist nach demselben Schema wie das Intro: eine Phrase, die dann wiederholt und abgewandelt wurde, immer mit Pausen dazwischen, und dennoch mit der Zeit wahnsinnig dicht. Sein Ton ist klasse, seine Phrasierung enorm präzise – und mit der Rhythmusgruppe fügt sich das zu einer Klangwalze, die einen schon mal fast überrollen kann – aber die sich eben doch auch irgendwie selbst beherrscht, ein wenig zurücknimmt, nie völlig ausbricht. Finlayson war manchmal einfach Teil dieses Gefüges, seine Soli eher Gruppenmomente, kurze Phrasen, während derer Coleman nach seinem Solo oft nahtlos weiterriffte. In den besten Momenten wurde Finlayson zur puckishen Gegenkraft und brach auch ein wenig aus dem gut geölten Betrieb aus, brachte einen ganz anderen Atem rein.

Brown/Richman spielten quasi zwei Stunden ohne zu atmen durch – Brown sehr laut, im Soundgefüge die Konstante, und mit dem E-Bass natürlich stets korrekt auf den pitches – womit Coleman manchmal ein wenig spielte, aber auch in der Hinsicht brachte die freier atmende Trompete mit ihrem brüchigeren Ton immer wieder schöne Kontraste ins Gefüge. Nach einer halben Stunde oder so schien die Band auf einem anderen Level zu sein, und da blieb sie für den Rest. Da und dort tauchten Versatzstücke bekannter Themen auf – einmal gab’s ein richtiges Parker-Stück („Barbados“?), andere Male einen fett groovenden 5/4 oder einen angedeuteten Tango. Als Set-Closer spielten sie dann irgendwie sehr unironisch „America the Beautiful“ – als Hymne eigentlich, aus der dann aber auch wieder – bei den Band-Intros, denen das Stück auch dient, traute sich von den anderen drei niemand, Coleman anzusagen, obwohl sie alle ein Gesangsmikro vor sich hatten (shut up and play, ein Grinsen im Gesicht hatten sie alle mal und angespannt wirkten sie nicht – aber Coleman machte schon mal auf Kosten von Finlayson Faxen, die das Publikum lachen liessen … nicht direkt ein feiner Zug; ich hab auf dem Foto einen der seltenen Momente eingefangen, in denen Brown eine Regung zeigte – es hiess: keine Videos, Fotos ohne Blitz in den ersten 15 Minuten). Gesungen bzw. gesummt haben nur Coleman und Finlayson: ein vertracktes, bebop-artiges Stück am Ende, das dann halt nicht gespielt sondern unisono gesungen wurde (und das war der Moment: Finlayson hielt sich das eine Ohr zu, um sich selbst zu hören, was Coleman zum Anlass des Spottes nahm – ohne das Finlayson das mitgekriegt hat, denke ich).

Die Musik des Quartetts hatte einen tranceartigen Effekt – was auch mit der Klangwalze zu tun hatte: die fast nie unterbrochenen schnellen Bassriffs (einmal gab’s einen Standard und Brown fiel in einen Walking Bass – für sowas hat Coleman auch mal wem rasch was ins Ohr geflüstert, oder Finlayson gab eine nicht ausgesprochene Anweisung weiter … das ist also nicht alles durchgetaktet), die Beats, die sich zwar stets änderten, aber doch immer gleichartig und sofort erkennbar blieben – letzteres fand ich sehr beeindruckend. Etwa wenn Rickman im zweiten Teil von „America“ quasi parallel zu seinem patentierte Five-Elements-Beat noch einen fetten New Orleans Shuffle dazu spielte – ohne den Hauptbeat im geringsten zu durchbrechen. Da gab’s also diesen binären, auf minimale Akzentverschiebungen ausgerichtete, spitzen Hauptbeat, und dazu einen sehr freien, fett groovenden zweiten Beat dazu. Ähnlich schon davor einmal, als ein Stück zu hören war, das wie ein (angedeuteter) Tango klang. Coleman brach im Lauf des Abends aus den unzähligen Riffs immer stärker und länger aus, spielte fliessende Soli, deren Phrasen er gegen Ende des Abends hin – à la Jackie McLean – immer öfter mit kurzen Schreien oder Seufzern quittierte. Der Weg in die Garderobe sei zu weit, drum spielen man einfach direkt noch eine Zugabe, meinte er nach „America“ – und ganz zum Ende schmeichelte er dem Publikum ein wenig: er komme hier immer wieder gerne hin, toller Raum („wie bei jemand zuhause“), gutes Publikum, gute Atmosphäre, er kenne nur drei Clubs, die so seinen: das Porgy & Bess in Wien, das New Morning in Paris und eben das Moods; da passsiere mit der Musik etwas: entweder höbe sie völlig ab – oder sie sinke in den Abgrund. Letzteres war nun zum Glück an dem Abend in Zürich nicht passiert.

Mir ist das am Ende irgendwie immer noch wesensfremde Musik – aus vielerlei Gründen, auch den offensiven Machismo des Leaders, dem Rickman sich anzuschliessen scheint, fand ich nicht so schön; aber bedeutender sind natürlich die musikalischen Gründe, und da ist es das, was ich als Atemlosigkeit oder als Klangwalze nur unzureichend beschreiben kann. Aber mich darauf einzulassen hat sich ungemein gelohnt, ich fand das in vieler Hinsicht eine beeindruckende Performance, von Coleman, von der Band (wobei ich gerne etwas mehr von Finlayson gehört hätte – der kam etwas zu kurz, spielte nur zwei oder drei richtige Soli, die anderen liefen nach dem oben beschriebenen Schema ab).

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba