Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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LAC, Lugano – 13.04.2023

Orchestra Mozart
Daniele Gatti
Leitung

RICHARD WAGNER: Idillio di Sigfrido, per orchestra da camera
JOHANNES BRAHMS: Variazioni su un tema di Haydn, op. 56a

JOHANNES BRAHMS: Sinfonia n. 4 in minore, op. 98

Den Ausklang meines musikalisch enorm reichhaltigen Urlaubs im Tessin machte letzten Donnerstag noch ein Konzert im wunderbaren grossen Saal das LAC – der leider ziemlich leer blieb. Man hätte sich ins Parkett umplatzieren lassen können, aber ich hatte erstmals eine Karte nicht für eine der seitlichen Logen (für Kammermusik oder ein Konzert mit einem Solisten oder einer Solistin sind die linken Logen super, näher dran und doch weit genug, um von der wunderbaren Akustik des Saales was zu haben) und wollte das einfach ausprobieren – und ich bin mir ziemlich sicher, dass der Klang da oben, auf den billigen Plätzen quasi – viel besser war als unten und weiter vorn (oder gar unterm Balkon) im Parkett.

Was die Musik angeht, ich habe ja den Tick, über Wagner immer etwas spotten zu müssen – das dient auch dazu, die Distanz zu wahren, die ich gegenüber Wagners Musik für den Rest meiner Tage wahren werde. Es gab zum Einstieg eines Brahms-Programmes also den „Fidi-Vogelsang“ vom Sigi für Cosis Geburtstag, erstmals in Triebschen im Treppenhaus mit etwas mehr als einem Dutzend Musiker aufgeführt als Morgenständchen (um 8:30, glaub ich gelesen zu haben?). Das ist ja schon ein wundersames Stück Musik, in dem viele Elemente der Wagner’schen Musik präsent sind – aber irgendwie ohne dieses suggestive Grundmurmeln, das seinen Bühnenwerken innewohnt. Jedenfalls eine schöne Interpretation mit etwas reduzierter Besetzung (aber „orchestra da camera“ weiss ich jetzt nicht, wenn 50 Leute noch darunter fallen, dann schon). Gatti dirigierte auch in der Folge alles ohne Noten, mal sehr engagiert, mit grosser Geste (und sehr langem Stab), ein wenig wie ein Torero anmutend mit Bewegungen nach vorn und wieder zurück, dann ganz entspannt und locker. Diesen Gegensatz hörte ich aber vor allem auch in der Musik: eine faszinierende Mischung aus zupackender, ja fast hemdsärmliger Spielweise, sehr direkt, vor lauter Lebendigkeit nicht immer mit der grössten Präzision – was jedoch keineswegs störte, ganz im Gegenteil. Bei Pianisten bemüht man gerne mal das Wörtchen „improvisatorisch“ (bei Kempff etwa), und daran dachte ich immer wieder beim Orchestra Mozart. So seltsam das klingen mag, denn organisierte Orchestermusik kann ja nicht im Moment spontan entstehen. Doch genau das war der Eindruck, den Gatti und das Orchestra Mozart immer wieder erzeugten. Das zog sich durch die Variationen von Brahms und dann auch durch den Höhepunkt des Konzertes nach der Pause, die vierte Symphonie. Die andere Seite der Musik war eine wahnsinnig feine Geste, immer wieder ein überirdisch zartes Pianissimo – das dann in vollendeter Präzision ausgeführt wurde. Und eben in diesem Spannungsfeld entwickelte sich das ganze Konzert. Und dafür war das Stück von Wagner der perfekte Einstieg.
 

Zürich, Opernhaus – 15.04.2023

Léo Delibes (1836-1891):
Lakmé – Oper in drei Akten
Libretto von Edmond Gondinet und Philippe Gille nach dem Roman «Rarahu ou Le Mariage de Loti» von Pierre Loti
Konzertante Aufführung

Musikalische Leitung Alexander Joel
Szenische Einrichtung Natascha Ursuliak
Choreinstudierung Janko Kastelic

Gérald, englischer Offizier Edgardo Rocha
Frédéric, englischer Offizier Björn Bürger
Nilakantha, Brahmanenpriester Philippe Sly
Lakmé, seine Tochter Sabine Devieilhe
Mallika, deren Begleiterin Siena Licht Miller
Hadji, Diener Nilakanthas Saveliy Andreev
Ellen, Geralds Verlobte Sandra Hamaoui
Rose, ihre Cousine Bożena Bujnicka
Mistress Benson, deren Erzieherin Irène Friedli
Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich

Mein Urlaub endete dann am Freitag, weil ich nicht am gleichen Tag heim fahren und abends in die Oper gehen mochte. Der Termin am Samstag war schon sehr lange gesetzt: die letzte von drei konzertanten Aufführungen von Delibes‘ „Lakmé“ (eine Verballhornung von „Lakshmi“, dem Namen der indischen Gottheit). Das ist Parfüm im Überfluss, kein Orientalismus, der sich wirklich für Quellen interessiert sondern alles aus zweiter Hand bezog, wie ein guter Aufsatz im Programmheft darlegte (den Text übernahm man mit freundlicher Erlaubnis dem Programm der Deutschen Oper Berlin, wo „Lakmé“ letzten Herbst konzertant aufgeführt wurde, das Programmheft von dort steht noch im Netz). Dramatische Entwicklung, eigentliches Theater, sucht man in Delibes‘ Stück vergebens. Dabei ist es wirklich so, dass es keinen Moment gibt, in dem nicht wahnsinnig schön gesungen und gespielt wurde. Also ein eigenartiges Ding zwischen gescheitertem Bühnenwerk und irrsinnig schöner Musik, eine Parfümorgie, in der dennoch die Musik immer die Obhut behält. Das erst seit ein paar Jahrzehnten berühmte „Blumenduett“ erklingt bereits früh im ersten Akt, die damals unmittelbar berühmt gewordene „Glockenarie“ („Où va la jeune Hindoue“), die die vom Vater geknechtete Lakmé als List singen muss, um den verbrecherischen Verehrer aus der Deckung zu Locken muss, folgt dann im zweiten Akt. Beide hat Devieilhe für ihr Album „Mirages“ mustergültig aufgenommen (das Duett mit Marianne Crebassa, kann man auch in der Tube nachschauen, ich verlinke das immer wieder mal gerne).

Für meine Ohren ist sie, Sabine Devieilhe, wirklich die überragende Koloratursopranistin unserer Tage. Eine unfassbare Stimme, die auch im Pianissimo noch den ganzen Saal füllt, die ganzen Oktavsprünge mit einer Natürlichkeit gesungen, dass das unfassbar leicht wirkt – was natürlich ein grosser Trugschluss ist. Nach der Glockenarie gab es minutenlangen Applaus, doch auch die Männer – allen voran Edgardo Rocha und Philippe Sly – kriegten immer wieder verdienten Szenenapplaus. Dieses Trio – Devieilhe, Rocha und Sly – trug das Stück zusammen mit dem Orchester, das von Alexander Joel mit grosser (operntypischer) Geste geleitet wurde. Die kleinen Rollen waren alle durchweg stark, nicht zuletzt Saveliy Andreev als Sklave des Priesters und (so halb, ist eben alles nicht so richtig ausgearbeitet in diesem Stück) Verbündeter Lakmés. Und Sienna Licht Miller war Devieilhe im Blumenduett eine würdige Partnerin.

Unterm Strich einmal mehr eine perfekte Wahl für eine konzertante Aufführung – denn mit Bühnenbild und üppigeren Kostümen usw. hätte das Stück zumindest als Bühnenwerk ziemlich gewiss enttäuscht. Und das zweite Mal eine umwerfende Performance von Devieilhe in so einem Rahmen in Zürich (als „fille du régiment“ mit Speranza Scapucci war sie allerdings noch besser, was aber viel mit dem Werk zu tun hat). Ich freue mich jetzt riesig auf ihren Liederabend im Juni.

Hier das Blumenduett („Viens, Malika“) in der Version von „Mirages“ (Warner Classics, 2017), Sabine Devieilhe & Marianne Crebassa, Les Siècles/François-Xavier Roth:


 

Zürich, Kleine Tonhalle – 16.04.2023 – Kosmos Kammermusik

Emmanuel Pahud Flöte
Sabine Poyé Morel Flöte
Simon Fuchs Oboe
Kaspar Zimmermann Oboe
Michael Reid Klarinette
Diego Baroni Klarinette
Michael von Schönermark Fagott
Hans Agreda Fagott
Ivo Gass Horn
Karl Fässler Horn
Hendrik Heilmann Klavier

FRANK MARTIN: Ballade für Flöte und Klavier
NIKOLAIJ RIMSKIJ-KORSAKOW: Quintett B-Dur für Flöte, Klarinette, Horn, Fagott und Klavier
JOACHIM RAFF: Sinfonietta F-Dur op. 188 für doppeltes Bläserquintett

Gestern ging es dann am verregneten späten Nachmittag ins Kammermusikkonzert in der kleinen Tonhalle – erneut mit Emmanuel Pahud, der zusammen mit zehn Musiker*innen des Tonhalle Orchesters (uff, eine einzige Frau – bei den Bläsern ist die Verteilung in der Tonhalle echt nicht gut, wie den Fotos oben zu entnehmen ist, macht das Philharmonia Orchestra das zumindest beim Holz perfekt). Los ging es mit der recht kurzen Ballade für Flöte und Klavier von Frank Martin, einem Stück, das 1939 als Auftragswerk für den Concours de Genève entstand und das „alle Qualitäten der Flötisten, die an diesem Wettbewerb teilnahmen, zeigen sollte, insbesondere die technischen Aspekte der Flöte“ (so wird im Programmheft Martins dritte Ehefrau Maria zitiert). So wirkte es denn auch: ein Bravourstück, in dem die Technik manchmal fast zu überborden schien, das Musizieren selbst ein wenig ins Hintertreffen geriet. Natürlich spielte Pahud das mit bestechender Leichtigkeit, aber eben auch ohne die Materialität der Musik vergessen zu machen (das gefällt mir bei ihm sehr gut, er wirkt irgendwie geerdet, die Flöte als „Werkzeug“, eben als „Instrument“, ist stets zu spüren, da wird nicht einfach in der Luft herumgirlandiert wie ich es manchmal bei anderen Virtuosen des Instruments empfinde).

Mein Highlight war dann das folgende Quintett von Rimsky-Korsakov für Klavier und Bläser. Hendrik Heilmann, den neuen Mann an den Tasten, kriegt man in Orchesterkonzerten naturgemäss nur selten zu hören – als ich zum letzten Mal bei einem Orchesterkonzert mit Tasteninstrument auf der Bühne war, war ausgerechnet ein Einspringer dabei (die Besetzung pro Programm gibt das Tonhalle-Orchester leider nicht bekannt). Aber neulich bei der „Literatur und Kunst“-Matinée mit Hosokawa/Bouvier war er ja auch schon dabei. Ich fand ihn beide Male exzellent, im Stück von Rimsky-Korsakov fand ich auch die Balance zwischen Klavier und Bläsern hervorragend. Entstanden ist es 1876 und anscheinend am spielerischen Unvermögen der Erstaufführenden gescheitert (die Uraufführung sei nicht einmal zu Ende gespielt worden, das Stück erschien erst posthum, wurde von der Revolution dann nochmal gecancelt etc.). Den langsamen Mittelsatz fand ich enorm faszinierende, da entsteht eine fast minimalistische Stimmung und das entwickelt einen grossen Sog. Als drittes gab es dann Raffs Sinfonietta für doppeltes Bläserquintett – Raff (1822-1882) war wie Martin ein Autodidakt, wirkte als Assistent von Liszt und wird hier (er wuchs am anderen Ende des Zürichsees auf, dem „Obersee“) seit ein paar Jahren eifrig wiederentdeckt. Rimsky-Korsakovs Stück war zwar das längste, aber Raffs mit vier Sätzen das satzreichste. Ich fand hier die beiden Mittelsätze am schönsten, zuerst der charmante zweite mit seinem Widerspiel („Ein bissiger Marsch über einen persistenten Rhythmus wird … durch ein liebliches Trio mit Alphorn-Anhklängen konterkariert“) und dann den seltsamen, aber sehr innigen langsamen dritten Satz. (Leider hatte in Kind ganz in meiner Nähe ausgerechnet im langsamen Satz einen meltdown und schluchzte/heulte/japste bis zum Ende durch – dass der Vater nicht rausing, kann ich verstehen, das hätte bei der sehr engen Bestuhlung noch viel mehr gestört. Und ja: Flötensolisten ziehen stets Eltern mit Kindern an, immer … auch süsse Fans leicht fortgeschritteneren Alters, aber die tauchen bei Pianist*innen und Geiger*innen ja auch auf – die Kinder aber eher bei Bläsern, dünkt mich.)

Das ist alles andere als „home turf“ für mich – und wohl mit ein Grund, dass ich die Musik nicht zu meinem Beruf machen mochte: ich konnte mit klassischer Bläsermusik auch damals nicht viel anfangen, als ich noch Klarinette spielte … aber ich arbeite mich allmählich heran bzw. unternehme hie und da wieder einen Anlauf, und es bleibt schon ein klein wenig etwas davon hängen. Und natürlich schätze ich es, solches soweit ich es beurteilen kann selten aufgeführtes Repertoire in der Güte hören zu können. Mir waren alle drei Werke unvertraut, nur das von Martin müsste ich irgendwo auf CD haben. Und dass die kleine Tonhalle mit ihren immerhin 600 Plätzen fast ausverkauft war, war natürlich auch erfreulich (die „Lakmé“ war’s restlos, aber da hab ich’s auch erwartet – dennoch bleiben weiterhin auffällig viele Plätze leer).

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba