Antwort auf: Umfrage: Die besten Alben der 1990er

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wahr

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Praktische und verbraucherfreundliche Kurzkommentare zu meiner Auswahl.

(Lesedauer 5-10 Minuten, denn so kurz ist es dann doch nicht geworden)

01 It’s Immaterial – Song
Kein beschwingtes „Driving Away From Home“ ist hier mehr zu finden gewesen. Stattdessen Reflektionen über Arbeitslosigkeit, Seebädertristesse, ersehnte Flucht aus Suburbia („How I miss the city!“), ordinary life of ordinary people. Hat mich ein ums andere Mal – nein, nicht gerettet – aber mich unterstützt. Mehr kann man von Musik kaum verlangen.

02 Jerry Garcia & David Grisman – Jerry Garcia & David Grisman
Jeder verfluchte Ton, den Garcia und Grisman auf diesem ultravirtuosen, megaentspannten, suprasuper produzierten Album anspielen, ist das Ergebnis von in Jahrhunderten geschmiedeten Erzählungen alter Folkmusik (gilt auch für andere Alben, die sich aus diesen Sessions der beiden speisen). Ich kann’s nicht beweisen, aber dies könnte eine der Inspirationen gewesen sein, die Dylan zu dem Dylan gemacht haben, der Dylan seit „Love & Theft“ ist.

03 White Heaven – Out
Out ist too much. Die Abläufe der langen Tracks, die Platzierung und Dauer der lauten und der leisen Parts ist auf ganz eigene, ungewöhnliche Weise angeordnet. Die ruhigen Stellen sind zu lange ruhig, die lauten Stellen kommen, wenn man sie nicht erwartet, sie dauern weiter an, obwohl sie dramaturgisch schon zum Abschluss gekommen sind, oder sie finden ein überraschend schnelles Ende. Die erste LP-Seite beginnt mitten im Song mit einem Noise-Ausbruch, dann melden sich White Heaven wie ruhig gestellte Berauschte mit teilweise lähmenden, traurigen Phasen. Der Gesang in englisch mit schwerem Akzent japanischer Muttersprachler. 1991 auf dem japanischen, Krach und Psych verpflichteten Plattenlabel P.S.F. erschienen und 2020 von Black Editions wiederveröffentlicht. Kenne es auch erst seit der WVÖ. Für mich unverhofft vielleicht das, was Deep Purples Made In Japan für andete ist: Groß angelegter Monsterrock. Man kann von den Bewohnern eines Landes, auf das zwei Atombomben geworfen worden sind, jedoch nicht erwarten, dass sie ihre Gitarrensoli mit Wohlklang ausstatten. Mal wieder eine Platte, die mir den Glauben an Rockmusik zurückgab, wie es vor ein paar Jahren schon Fushitsushas Live 2 tat – ebenfalls auf P.S.F. erschienen, ebenfalls in den 90er Jahren, ebenfalls in meinen Top 20 der 90er.

04 Portishead – Dummy
Alle Wärme aus aktuellen Beats zu eliminieren, bis sie nur noch eisiges Blau abstrahlen, Elektronik und Streichersamples der gleichen Prozedur zuführen und das Ganze dann auf sehnenden Soul treffen zu lassen, um mal zu schauen, wer als erstes zu schmelzen beginnt, hatte zwar auch so seine Vorgänger (Nicolette und Shut Up & Dance), wurde hier aber perfekt an die wohlhabenderen jugendlichen Lebenswelten westlich orientierter weißer Gesellschaften adaptiert. Ich war jedenfalls nur zu bereit zu schmelzen.

05 The Fall – The Infotainment Scan
Die Zeit des attraktiven Glitzerindie-Paars Mark & Brix Smith war vorbei, der Traum von Goldenen Schallplatten, den Brix Smith als Fall-Mitglied träumte, war ausgeträumt. The Fall wurden nach und nach wieder harrscher – darin auch ein Kind der 90er – bauten Dance-Strukturen und Elektronik als eine Art Fehlerkultur in ihre Alben ein. Und haben sich durch den „mis-use“ der damaligen Sounds gleichzeitig eine Distanz aufgebaut, anhand der man einige Aspekte der 90er ganz gut nachvollziehen kann: Den krassen CD-Sound; die grellen, grob gehauenen Anfänge des Computer- und Webdesigns, die sich in den Covern von Code: Selfish und The Infotainment Scan spiegeln; der Einfluss der Clubkultur, der sich auch auf „Gitarrenbands“ auswirkte. Die Anfänge des Infotainments mit Quasidokus über bestimmte Dekaden („So waren unsere 70er!“) haben sie mit The Infotainment Scan schon satirisch/zynisch kommentiert. Man kann ein paar Dinge über die 90er (and beyond) lernen, wenn man sich mit den 90er-Fall beschäftigt. Vielleicht haben sie dann doch für The Infotainment Scan eine goldene Schallplatte bekommen. Dank „Lost In Music“, der Coverversion eines Disco-Stücks, das ein ehemaliges Mitglied der Black Panther mitkomponiert hat und Smith hier als Anklage des Rave-Hedonismusses dient – und auf das man tanzen konnte.

06 P.J. Harvey – To Bring You My Love
Glitzerblues, der Ophelia ins Wasser begleitet.

07 Robert Wyatt – Shleep
Mit Shleep wurde Wyatt wieder kommunikativer in der Musik, hatte die Möglichkeit, mit mehr MusikerInnen seine Sprache zu finden, anstatt sich fast nur auf seinen kleinen italienischen Analogsynthesizer zu beschränken (was auch sehr überzeugend auf den beiden Vorgängeralben gelang). Er arrangierte mit Sorgfalt und einem größeren Instrumentarium seine Analysen und Beobachtungen, die ja immer durch seine einmalige Stimme eine konstatierende Trauer umgibt. Phil Manzanera bot ihm Raum und Gelegenheit dazu. Für mich insgesamt neben Rock Bottom sein bestes Werk.

08 Songs: Ohia – Axxess & Ace
„There will be trouble with me/ There will be trouble more than these“. Man könnte meinen, damit ist der Ton gesetzt für Molina, der hier eine kleine Bande chicagoer Musiker um sich schart und live im One-take-Modus aufnehmen lässt. Die Arrangements sind sparsam, aber verglichen mit früheren Sachen von Songs: Ohia sind sie geradezu üppig. Die Sorgen haben Molina zeitlebens wohl nie verlassen, aber Axxess & Ace strahlt so eine Power aus, dass man die Hoffnung hatte, er würde sich davon schon erholen können. In den Jahren danach machte er noch weitere große Platten, wurde elektrischer, wurde besser als Neil Young. Aber gegen die Sorgen konnte er irgendwann nicht mehr ankämpfen.

09 The Fall – Code: Selfish
Die 90er waren aus persönlichen Gründen kein Jahrzehnt, in dem ich sehr viele Alben aus der Zeit gehört habe. Bis Mitte der 90er war ich als DJ tätig, da war ich vorwiegend auf der Suche nach floortauglichen Tracks auch aus anderen Dekaden, danach dann der Einstieg in den Beruf, der meine Zeit in Anspruch nahm. The Fall spielten in den ersten Jahren der 90er eigentlich in der allgemeinen Pop/Indie-Kultur keine große Rolle mehr. Ich kaufte mir Code: Selfish trotzdem und ließ mich unter anderem von der ruffen Elekronik begeistern, die Dave Bush einbrachte. Mark E. Smith ätzt über die Business-Karrieren von Zeitgenossen und über das nach weiteren freien Handelszonen strebende Europa.

10 Fushitsusha – 不失者 („Live 2“)
Keishi Haino ist einer der furchtlosesten Gitarristen des Planeten. Das Trio (Gitarre, Bass, Drums) stampft schwer und langsam durch diesen Megaklopps freien Godzilla-Rocks. Zeit und seine Abläufe spielen keine Rolle, Haino schreit ab und an seine gepressten Schreie, dann wieder singt er einsam mit hoher Stimme wie ein verängstigter Geist, aber die Sensation ist die Gitarre, die alle Arten der Abrasion und Stille durchforscht.

11 Massive Attack – Blue Lines
Der langsame Bristol-Vibe. Horace Andy habe ich erst über diese Platte kennengelernt. Heute mach ich Reggae-Sendungen und tue so, als hätte ich seinen 70/80er Output schon bei dessen Erscheinen mit dem Spliff eingesaugt.

12 The Cruel Sea – Three Legged Dog
Wenn harte Männer Angst vorm Fliegen haben und einen Anwalt benötigen, einen wirklich guten.

13 Sun City Girls – Torch Of The Mystics
Free Rock der Brüder Bishop mit libanesischen Wuzeln und dem Drummer Charles Gocher. Haben unzählige Alben veröffentlicht, die so ziemlich alles von Stress-Ambient, Noise, Rock und Ennio Morricone in ihr Werk aufgenommen haben. The New Weird America, bevor dieser Begriff von der WIRE erfunden wurde. Die Texte oft ein Vortex aus Exotica und mystischen Ritualen. Torch Of The Mystics bietet einen schönen Überblick über die Bandbreite in griffigen Varianten. Die konnten nämlich auch weitaus heftiger werden.

14 MC 900 Ft Jesus – Welcome To My Dream
Kein HipHop in meiner Liste, irgendwie bin ich dort grad nicht auf Montage. Aber die Albtraumreisen von Mark Griffin in die Neighbourhood müssen rein, sie sind auch eher Potcasts des Innenlebens als HipHop.

15 Stereolab – Dots And Loops
Um 1994 herum wurde (Indie-)Popmusik plötzlich von anderen Perspektiven heraus betrachtet. Combustible Edison läuteten ein Easy-Listening…, nein, es war kein Revival, denn es hatte vorher keinen Platz im Distinktionsuniversum, zu dem man hätte zurückkehren können. Es war insofern eine neue Perspektive. Wir notierten uns Namen wie den Exotic Lounger Martin Denny und das mexikanische Arrangeur-Genie Esquivel. Hörten vielleicht zum ersten Mal den Namen Delia Derbyshire oder Pauline Oliveros (obwohl, nein, den hörte ich erst später). Plötzlich war ein Ringmodulator attraktiver als eine E-Gitarre. Stereolab hatten es schon zu Anfang der Dekade gewusst, welche faszinierenden Weiten sich auftun würden, würde man moderne Popmusik aus der Perspektive von Lounge-, Bossa- und früher experimenteller Elektronikmusik heraus betrachten. 1997 hatten Stereolab dann mit „Dots And Loops“ die perfekte Symbiose daraus entworfen.

16 Air – Moon Safari
Air lösten lange Zeit Pink Floyd, Eroc und äh Kraan als meistbenutzte Untermalung von TV-Reportagen ab. Irgendwann wurde der Retrofuturismus aber von der Retromania wieder eingeholt und die Registrierkasse von „Money“ klingelt seitdem wieder öfter. Jetzt im Jubiläumsjahr sowieso.

17 Donald Fagen – Kamakiriad
Hat beim letzten Hören doch etwas nachgelassen in meiner Gunst, ich war aber zu entscheidungsschwach, um es dann auch konsequenterweise wegzulassen. Hab halt auch Gefühle. Die knackende, distanzierte Produktion finde nach wie vor sehr gelungen. Ich habe ein Faible für frühe volldigitale Produktionen wie z.B. Ry Cooders Bob Till You Drop oder Ornette Colemans Of Human Feelings, ihr kaltes Separieren der Instrumente. Vielleicht kommt daher meine Bewunderung von Kamakiriad, von dem ich jetzt plötzlich nicht gesagt haben will, dass sie in meiner Gunst nachgelassen hat.

18 Urge Overkill – The Supersonic Storybook
Sympathie für die versuchten Großentwürfe der Band, mit hippem Klamottenstil und alternativem, vom Hardcore kommenden Großrock den Erfolg zu suchen. Das Geld machten dann andere, ihnen blieb nur das Heroin.

19 Caetano Veloso – Livro
Sowas wie ein nostalgiefreies Kaleidoskop seiner Bandbreite mit teilweise atemberaubend schönen Tracks.

20 Al Green – Don’t Look Back
Gerne übersehenes Meisterwerk, das von der Wirkung an beste Hi-Zeiten anknüpfte, aber mit damals Anfang der 90er modernen Mitteln: Viel Drumcomputer und elektronische Soundgenerierung, gemischt mit Analogem. Trotzdem hier sehr viele Produzenten mitkochten, doch viel überzeugender und frischer gelungen als die reinen Nostalgie-Platten, die in den folgenden Jahren noch von Willie Mitchell alleine produziert worden sind, und die den eigenen 70er Hi-Soundmythos ziemlich uninspiriert aufwärmten.

zuletzt geändert von wahr