Re: pop français des années 60

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dougsahm
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So, nun habe ich nochmal die „Werbeschrift“ ihrer Agentur rausgesucht. Sind schöne und korrekte Vergleiche drin.

Innerhalb von sechs Jahren, fünf Alben und dreiundsechzig Stücken (die fünfzehn Stücke von
„Musique automatique“ mitgerechnet) hat das Berliner Duo STEREO TOTAL ein buntes und
reizvolles Universum kreiert. Zwischen essentiellem Punkrock und hypem easy listening stets
oszillierend, glänzen die Stücke sehr kurz (meistens nicht länger als drei Minuten), mit der
Intensität einer plötzlichen Blendung. Am Anfang dieses sich immer ausdehnenden musikalischen
Universums (freuen wir uns!): eine Frau, ein Mann und eine unerschöpfliche, sprudelnde Fantasie.
Françoise Cactus, unter dem Namen Van Hove im Burgund geboren und Wahlberlinerin seit so
etwas wie einer Generation, Schriftstellerin, lokale Diva, die – unter anderem – als Schlagzeugerin
und Sängerin der Lolitas schon in den achtziger Jahren auftrat, sowie Brezel Göring, ein
unerklärlicher Mix zwischen hyperspeedem „Grand Duduche“ und elegantem, diskretem Crooner
mit sanfter Stimme und lebhaftem Rhythmus, und der, über seinem Synthesizer gebeugt, glücklich
wie ein kleiner Junge, an den halluzinierten Erfinder Géo Trouvetout erinnert.
Um STEREO TOTALs junge Geschichte zusammenzufassen, die mit der Single „allo j’écoute“
ihren Anfang nahm, zählen wir auf, was ihre musikalische Kunst charakterisiert: eine
minimalistische Produktion, im positiven Sinne, das heißt ein home-made-trash-Garagensound,
gekreuzt mit Underground, sowohl glaubwürdig als dilettantisch, ironisch als wirksam, pop als …
politisch. Eine unermüdliche schöpferische Energie, als ob es nie genug wäre, „Ach! Aber Sie
haben dieses noch nicht gehört!“, und schwupp! es geht wieder los, kaum hatte man die Zeit
aufzuatmen. Ein genialer Sinn fürs Komponieren sowie fürs Covern, aus welcher Quelle auch
immer, verbunden mit einer übermäßigen Liebe zum französischen Chanson (mit einem Faible,
einer offensichtlichen Verehrung für den Meister Gainsbourg). Das Geheimnis von Wörtern, aus
der französisch-deutschen / männlich-weiblichen Zweisprachigkeit entstanden, in denen sich
wonnig Akzente vermischen – immer exotischer bei jeder neuen Schallplatte (japanisch, türkisch,
spanisch, englisch …). Und schließlich eine zugespitzte und überraschende Sensibilität für
elektronische Effekte, ein aufregender Beat, ein Geschenk der Popmusik und ihre immerwährenden
Geschichten: Zwischen „Dactylo rock“ und „Get down tonight“ (1995), „Supergirl“ und
„Grand prix Eurovision“ (1997), „Touche-moi“ und „Party anticonformiste“ (1998), „Die Krise“ und
„Milky Boy bourgeois“ (1999), um nur einige Titel aus der Vergangenheit zu zitieren.
Mit ihrem neuen Album „Musique automatique“ ändern STEREO TOTAL nichts an ihren guten
Gewohnheiten, und es ist sehr gut so. Wer erst auf den Geschmack gekommen ist, will sofort
wieder davon. (Dass es sich hier um die Beichte eines Fans handelt, werden Sie, lieber Leser,
schon gemerkt haben.) Die unerwartete Vereinigung zweier Traditionen – des französischen
Chanson und der deutschen Elektronik (nicht nur Kraftwerk, sondern auch die neue deutsche
Welle der achtziger Jahre und das Ausströmen des electrogroove, der in zahlreichen Berliner
Klubs in den zehn letzten Jahren aufblühte – von Le Hammond Inferno bis Chili Gonzales) macht
sich wieder einmal großartig, bezaubert und sollte Frankreichs Ohren betören, während die Platte
von den Fans ungeduldig erwartet wird, ob in Japan, USA, Finnland oder auch anderswo, überall
also, wo STEREO TOTAL auf der Bühne Furore machten.
Eher an Nico als an Dion, an Birkin als an Paradis, an Ringier als an Gall erinnernd ist Françoise
Cactus‘ Stimme sowohl Lolita-artig (bei „adieu adieu“) und verzaubernd („l’amour à 3“) als
angenehm rau und … rebellisch (bei „für immer 16“). Und wenn ihre reizende französische
Aussprache der deutschen Texte beim deutschen Publikum geliebt wird, macht ihre französische
Sammlung von poetischen oder spielerischen, pathetischen oder frechen, anarchistischen oder
leichten Texten aus ihr die unbekannteste Komponistin und Sängerin des französischen
Chanson, und es wäre höchste Zeit, sie zu entdecken. So zerbrechlich wie unwiderstehlich vor
ihrem winzigen Schlagzeug auf der Bühne hämmert sie die Stücke aneinander in einem
verteufelten Rhythmus, innerhalb einiger Sekunden von einer romantischen Ballade (Nein! hör
nicht zu, es ist ein trauriges Lied!) zu einem reinen, einfachen Rock, der mehr als eine(n) hüpfen
lässt, übergehend – mit Brezel Göring an ihrer Seite, der als unermüdlicher Komplize und perfekter
Entertainer Gas gibt, die Finger auf den Knöpfen seiner Maschine oder auf den Saiten seiner
rechteckigen Gitarre.
Wagen wir also eine passende sprachliche Neubildung und erkennen wir mit einem Schauder von
seltsamem Glück, dass das, was STEREO TOTAL spielt, wahre Aduleszenz-Musik ist. (von aduler:
vergöttern und adolescence: Adoleszenz, Jugendalter). „Musique automatique“, unruhig in ihren
gebastelten Ursprüngen, erotisch durch ihre „chansons d’a“, als sie „adieu adieu“ flüstert,
oberirdisch durch die Anmut des Roboters „Ypsilon“, brennend, um auf „ma radio“ gesendet zu
werden, bevor sie „liebe zu dritt“ macht („es ist kommunistisch“, so wie es die Single sagt, und
also viel besser als kommerziell). Sowieso, während sie über die Unmöglichkeit singen, etwas
anderes als „kleptomane“ zu sein, haben STEREO TOTAL keine Angst, „le diable“ am Schwanz
zu packen (in einer Coverversion von B.B., die Robbie Williams vor Neid erblassen lassen würde.)
Perfekt für einen sommerlichen Ausflug auf der „nationale 7“ (mit einem Gruß beim Vorbeifahren
an die Hardcore-Version der Honeymoon Killers), oder für eine Runde auf der Tanzpiste („wir
tanzen im 4-eck“ (nach einem Werk der Tödlichen Doris – einem Trio aus Star-Performern, das u.a.
auf der Documenta 1987 spielte) sind die Melodien und Texte von STEREO TOTAL so, dass sie
zwischen Frühlingsputz und Chill-out eines Nightclubbers, dem Croissant von gestern und der
tristen U-Bahn gute Laune versprühen. (Und auch das: Sie lieben Reime!)

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