Antwort auf: Female Voices in Jazz (war: 25 feine Damenstimmen)

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Peggy Lee – World Broadcast Recordings 1955 (Audiophile Records/JazzOlogy, 2017) | Diese Doppel-CD bündelt erstmals alle bei vier nachmittäglichen Sessions im Februar und August 1955 aufgenommenen 49 Stücke 14 Stunden, schreibt James Gavin – die übliche Sessiondauer lag soweit mir bekannt bei drei Stunden, vermutlich weiss James Gavin, der die Liner Notes schrieb, dass zwei davon vier Stunden dauerten? Leider steht im Booklet nicht, welche Stücke von welcher der Sessions kommen. Das ist insofern relevant, als es einen Einfluss auf „best guesses“ zum Line-Up haben könnte. Jedenfalls sass damals Gene DiNovi am Klavier, der nach Engagements bei Artie Shaw, Lester Young und Benny Goodman mit Lee erstmals eine Sängerin begleitete. Bei der ersten Probe habe sie sich umgedreht und zu ihm gesagt: „Gee, you did some nice things with that.“, was ihm, wie er später sagte, „confidence for life“ gegeben habe. Verständlich!

Auch dabei: Stella Castellucci an der Harfe – seit 1953. Das rührte daher, dass Lee eine Art Obsession mit Ravels „Introduction & Allegro für Harfe und Orchester“ hatte und unbedingt eine Harfe in ihrer Band haben wollte. Vermittelt wurde Castellucci durch den Trompeter der Band, Pete Candoli – der auch bei diesen World Transcriptions zu hören sein könnte (andere Namen bringt Gavin nicht ins Spiel). An der Gitarre ist Bill Pittman zu hören, der später zur Wrecking Crew gehören sollte und hier immer wieder prominent zu hören ist. Lee hatte ihn lanciert und er stand 1955 am Ende seiner drei Jahre in der Band. Jack Costanzo wird für die Bongos verantwortlich sein, die da und dort auftauchen – so wie er 1955 da und dort bei Lee auftauchte. Die Infos stammen wohl von DiNovi, der für Bass, Drums und Trompete keine klaren Erinnerungen mehr hat, aber auf Bob Whitlock (oder im August Don Prell), Larry Bunker und eben Pete Candoli tippt. Und für Percussion noch den Namen Ramon „Ray“ Rivera ins Spiel bringt, der auch Mitte 1955 zur Tourband gehört habe. Die Vibes (und fehlenden Drums) auf „I Got It Bad“ mögen tatsächlich ein Hinweis auf Bunker sein.

Das Repertoire ist breit, die Songs meist so um die zweieinhalb Minuten kurz (1:31 ist der kürzeste, 3:30 der längste). Es wurde einerseits Material aus dem Band-Buch aufgenommen, andererseits allen vertraute Standards mit head arrangements, die jeweils schnell zusammengestellt wurden. Die Trompete taucht recht selten auf, DiNovi, Pittman und Castellucci sind die wichtigen Protagonist*innen in der Combo und sorgen für perfekte Begleitung von Lee, die in hervorragender Form ist. Das alles wirkt zugleich entspannt und total fokussiert. Spontane Sessions mit Leuten, die bestens miteinander vertraut sind halt – und musikalisch ein grosser Erfolg. Es gibt Songs aus den Zwanzigern, die Lee wenig später in „Pete Kelly’s Blues“ singen sollte („Bye Bye Blackbird“, „Somebody Loves Me“, „I Never Knew“, „What Can I Say After I Say I’m Sorry?“), eine boppige Version von „Love Me or Leave Me“ (auf „Black Coffee“ zu hören), ein sexy „Mean to Me“, drei Songs von Rodgers/Hammersteins „Oklahoma!“ („Oh, What a Beautiful Mornin'“, „People Will Say We’re in Love“ und ein persönlicher Favorit, „Surrey with the Fringe on Top“. Es gibt Latin-Rhythmen („That Old Black Magic“, „From This Moment On“, „Just One of Those Things“ – letzteres mit einem tollen Solo von DiNovi), die typischen bluesigen Songs, wie man sie sich lang nach Mitternacht in den kleineren Räumen vorstellen kann, in denen auch Lee auftrat („My Ideal“, „Come Rain or Come Shine“, „What’s New?“), während sie andere nächtliche Klassiker eher als Schlaflieder interpretiert („My Romance“, „Try a Little Tenderness“).

Definitiv eine meiner liebsten Lee-Veröffentlichungen, eine gute Fortschreibung der Capitol Transcriptions, die Mosaic vor Jahren herausbrachte (zusammen mit denen von June Christy), was für mich die eigentliche Entdeckung von Peggy Lee war. Die Aufnahmen stammen von 1946-47, aus der Zeit, als Lee glücklich mit Dave Barbour verheiratet war, dem ex-Goodman-Gitarristen und Songwriter, mit dem Lee auch ein paar gute Songs geschrieben hat. Nur zwei Stücke mit Lees eigenen Texten sind hier dabei, einer der gemeinsamen Hits mit Barbour, „It’s a Good Day“ von 1946, in einer überschwänglichen Version, zudem „Sans Souci“, das Lee 1952 mit Sonny Burke schrieb, hier als pulsierender Bolero mit Bongos zu hören. Auch „Let’s Call It a Day“ ist dabei, ein Song, den Lee 1952 aufnahm, als ihre Ehe mit Barbour am Ende war.

Leider ist der Klang der CDs alles andere als optimal – gerade für ein Label, dass sich „Audiophile Records“ nennt (Teil der George H. Buck-Gruppe, Jazzology usw.) ist das nicht, was erwartet wird. Die Aufnahmen sind zwar ohne grosse Störgeräusche überspielt, aber klingen dumpf und dunkel. Bei mir ist der Treble-Knopf am Anschlag und der Bass am Minimum, wenn ich das höre – und dann muss es relativ laut sein, damit man nicht ständig denkt, die Stimme sei zu leise. Schade, aber für mich ein Fall, bei dem ich einfach eine Viertelstunde brauche, um mich anzugewöhnen. Diese Kritik ändert wenig daran, dass ich das für eine sehr hörenswerte Veröffentlichung halte.

Kostproben:




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