Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Zürich, Tonhalle – 17.12.2022 – Neue Konzertreihe Zürich

Cappella Andrea Barca
András Schiff
Leitung, Klavier

Johann Sebastian Bach
Klavierkonzert D-Dur BWV 1054
Klavierkonzert f-Moll BWV 1056
Klavierkonzert g-Moll BWV 1058
Klavierkonzert E-Dur BWV 1053

Klavierkonzert A-Dur BWV 1055
Klavierkonzert d-Moll BWV 1052

Encore:
Klavierkonzert D-Dur BWV 1056 (II und III)
Capriccio sopra la lontananza de il fratro dilettissimo

Ich hab’s drüben schon erwähnt: der gestrige Abend mit András Schiff und seiner Cappella Andrea Barca war grossartig! Zumindest was Konzerte anbelangt, werde ich allmählich zum Schiff-Fan (und dass ich vor einigen Monaten mal eine Charakterisierung las, in der er mit Buster Keaton verglichen wurde – und mir das einleuchtete – half auf jeden Fall auch). Es gab sechs der Klavierkonzerte von Bach – es fehlte BWV 1055, was ein Arrangement eines der Brandenburgischen Konzerte ist. Angeordnet waren sie in einer höchst stimmigen Abfolge.

Schiff spielte einen privaten Steinway, der etwas schräg stand, so dass die zweiten Violinen etwas weiter gegen die Mitte rücken, die Bratschen hingegen ein wenig ins Hintertreffen gerieten. Direkt neben Schiff sass Christoph Richter, der Stimmführer der Celli, der die paar Solo-Stellen spielte und – die Werke stehen ja an einem Übergang, sind quasi Neusetzungen mit Wurzeln – auch die wichtige Continuo-Stimme. Die Zwei Kontrabässe standen – wie die Violinen natürlich – auch in Stereo, der eine aussen links hinter den Celli, der andere aussen rechts hinter den Bratschen. Durch die manchmal kleine Besetzung – immer mal wieder spielten nur Konzertmeister Erich Höbarth und die drei Stimmführenden der anderen Register (Ulrike-Anima Mathé bei den zweiten Violinen, Hariolf Schlichtig bei den Bratschen und eben Richter) – ergaben sich auch wunderbar intime Momente. Höbarth sass in Schiffs Rücken, aber das Ensemble spielte überhaupt ohne grosse Blickkontakte. Schiff gab manchmal ein paar Einsätze, doch die meiste Zeit lief das munter dahin, ohne ersichtliche Kommunikation: man kennt sich so gut, dass keine Worte und auch keine Gesten nötig sind.

Der erste betörende Moment war der langsame Satz von BWV 1054 (nach dem zweiten Violinkonzert BWV 1042, wo der Mittelsatz mich ebenfalls stets sehr berührt). In BWV 1056 (vermutlich auf ein verschollenes Violinkonzert zurückgehend) gibt es im zweiten Satz lange Streicher-Pizzicati, während das Klavier die Melodie praktisch alleine trägt – da gab es dann die eine oder andere kaum vermeidbare kleine Unsauberkeit (Besetzung: 6-6-4-3-2), aber auch das war wunderbar. Ein sehr kompaktes Stück, in dem die Ecksätze ein zusammengehörendes Ganzes bilden. Noch schöner fand ich dann BWV 1058 (davon gibt es wiederum auch eine Version für Violine), wieder mit einem betörenden Mittelsatz. BWV 1053 scheint auf ein Oboenkonzert zurückzugehen, doch entnommen hat Bach alle drei Sätze anderen überlieferten Stücken (den Kantaten BWV 169 und BWV 49, in denen eine Orgel mit reichhaltigen solistischen Passagen zum Einsatz kommt). Nach der Pause folgten BWV 1055 (vermutlich zuerst für Oboe d’amore bestimmt) und BWV 1052, das längste der sechs (der Kopfsatz stammt aus der Kantate BWV 1052, der Schlusssatz aus BWV 188). Das war dann wirklich ein glanzvoller Schlusspunkt eines umwerfenden Konzerts, in dem es fabelhaftes, mit rundum überzeugendes Klavierspiel zu hören gab – allein das eine Premiere in Sachen Schiff und ich. Und das Zusammenspielt mit dem Ensemble, das Ausschöpfen der Dynamik, das gemeinsame Atmen, und dabei alles ohne grosse Gesten, völlig unprätentiös – das war wirklich ein Erlebnis! Schiff nutzte fast nur in den kantilenenartigen Passagen der langsamen Sätze die Pedale, glänzte immer wieder mit einem perfekt aufgereihten jeu perlé, spielte noch die kleinsten Ausschmückungen mit Präzision und einer Prägnanz, die nichts zu wünschen übrig liess – selbst die zartesten Pianissimo-Passagen waren stets klar ausgestaltet, und dasselbe gilt für das Orchester.

Als erste Zugabe – der Applaus war schon vor der Pause sehr gross – gaben alle zusammen die zwei letzten Sätze von BWV 1056, also das Pizzicato-Largo und das attaca folgende Presto. Das reichte noch nicht – und Schiff setzte sich noch einmal hin, spielte jetzt allein ein ganz wundersames Stück, das ich zwar (in Cembalo-Einspielungen) auf jeden Fall schon gehört, aber noch nicht so wahrgenommen habe wie gestern: das Capriccio „über die Abreise des sehr geschätzten Bruders“ (er sagte es freundlicherweise an), das in sechs Sätzen einen irren Ideenreichtum bietet und über zehn Minuten dauert. Nach knapp zweieinhalb Stunden war dann Schluss … und ich stolperte glücklich in die Nacht hinaus.

Fotos mochte ich gestern keine machen, das war irgendwie zu eng, zu nah dran war ich mit meinem für solche Aufführungen perfekten Platz in der vordersten Reihe … daher oben ein Schnappschuss, den ich gestern in der Früh an der Limmat machte.

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