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Zürich, Tonhalle – 02.12.2022
Tonhalle-Orchester Zürich
Peter Ruzicka Leitung
Nils Mönkemeyer Viola
Damen der Zürcher Sing-Akademie Chor
Florian Helgath Einstudierung
Peter Ruzicka (*1948)
«FURIOSO» für Orchester – Schweizer Erstaufführung
«DEPART», Konzert für Viola und Orchester – Uraufführung
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George Enescu (1881-1955)
«Isis», Sinfonisches Adagio für Frauenchor und Orchester (Orchestrierung Pascal Bentoiu) – Schweizer Erstaufführung
Sinfonie Nr. 4 e-Moll (Vervollständigung Pascal Bentoiu) – Schweizer Erstaufführung
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Prélude: Kleine Tonhalle, 18.00 Uhr
Künstlergespräch und Kammermusik mit dem Komponisten Peter Ruzicka, dem Bratschisten Nils Mönkemeyer, der Sängerin Lisa Weiss und Franziska Gallusser (Moderation)
Peter Ruzicka
Drei Stücke für Klarinette solo (2012)
Riccardo Acciarino Klarinette
Fünf Szenen für Klavier (2009)
Vilhelm Moqvist Klavier
Das war ein unerwartet toller Abend gestern. Peter Ruzicka schaute in der Tonhalle vorbei, das ganze war ein Carte-Blanche-Abend für das Festival „Sonic Matter“, das sonst an völlig anderen Spielstätten abgehalten wird und nicht direkt Programme zum Sitzen und Zuhören bietet. Für einmal hatte ich einen Parkettplatz (kein grosses Vergnügen, akustisch ist es weiter hinten und oben halt einfach besser) – vielleicht, weil man zunächst davon ausing, dass der Balkon und die Galerien gar nicht geöffnet würden? Das wäre okay gewesen, denn es gab mehr leere Plätze als besetzte. Sehr schade, denn es gab drei Schweizer Erstaufführungen und eine Uraufführung – und es war am Ende echt umwerfend!
So ein „Prélude“ habe ich schon länger nicht mehr erlebt – die finden meist an einem der drei Abende statt, an denen das Tonhalle-Orchester jeweils seine Programme aufführt, ich gehe meist zum letzten (Fr oder Sa) und dann gibt es da in der Regel nichts. Umso schöner also, dass ich das gestern rechtzeitig mitgekriegt habe und früh genug dort war. Das ganze dauerte eine Stunde, es gab etwas viele Worte und auch Floskeln (auch von Ruzicka und Mönkemeyer), tiefer geschürft wurde leider nicht. Aber egal, es gab v.a. die drei Stücke für Klarinette solo, die ich echt umwerfend fand. Acciarino setzte sich danach auch noch rasch hin und äusserte sich zum Stück, das er als eine Art Reise empfinde. Auch meinte er, das Material, mit dem Ruzicka arbeite, sei recht sparsam, aber es werde unglaublich vielfältig variiert. Höchste Lagen, weite Sprünge usw. – das klang sehr anspruchsvoll, und war es wohl auch. Acciarino studiert an der ZHdK, ist aber alles andere als ein Anfänger (klick). Das würde ich auch von Vilhelm Moqvist nicht behaupten, doch der ist wirklich noch sehr jung. Er spielte als Abschluss Ruzickas „Fünf Szenen für Klavier“ – leider etwas beeinträchtigt von Geräuschen von nebenan (dass der Kammermusiksaal der Tonhalle innerhalb des Gebäudes so schlecht isoliert ist, ist mir noch gar nie aufgefallen – aber neulich bei einem der Bruckner-Konzerte mit Järvi gab es auch im grossen Saal recht viel Lärm von nebenan, vermutlich von Toilettenbesucher*innen einer Veranstaltung im Kongresshaus … nicht, was man sich wünscht). Die Szenen fand ich deutlich konventioneller, aber schon auch sehr ansprechend.
Es ging auch um Paul Celan. Mönkemeyer meinte im Gespräch, ihn habe hermetische Lyrik schon seit frühester Jugend fasziniert. Ruzicka hat sich immer wieder mit Celan befasst und diesem auch eine Oper gewidmet. Jetzt also ein Konzert für Viola und Orchester mit dem Titel „Depart“, nach der Notiz, die Celan seiner Frau auf dem Tisch hinterliess, als er am 19. April 1970 verschwand (als Todesdatum wird der 20. April 1970 geführt): „Départ Paul“. Das neue Werk hätte im Frühling 2020 uraufgeführt werden sollen, noch dann kam der Lockdown im März dazwischen. Zweieinhalb Jahre später konnte das nun am selben Ort und mit denselben Leuten nachgeholt werden. Los ging es davor aber mit „Furioso“, einer Ouvertüre von Ruzicka für seinen väterlichen Freund Rolf Liebermann (der 1947 ein „Furioso“ komponiert hatte). So furios fand ich das allerdings gar nicht, auch wenn das Tempo schon immens war (Ruzicka bezeichnet es als „Grenzfall“). Auf dem Podium sassen an den ersten Pulten bekannte Gesichter, aber im Gegensatz zu den „grossen“ Konzerten wirkten andere Musiker*innen mit bzw. rückten welche nach vorn, die sonst vielleicht nur bei richtig grossen Besetzunten am sechsten oder siebten Pult der Geigen sitzen. Doch ganz gross wurde die Besetzung erst für das letzte Stück des Abends.
Nach der Ouvertüre gab es eine kleine Umbaupause und dann die Uraufführung des 2020 fertiggestellten Viola-Konzerts von Ruzicka, eines Auftragswerkes der Tonhalle-Gesellschaft. Ruzicka schrieb für das – leider nur online nachzulesende – Programm dazu:
«Départ Paul» schrieb Paul Celan am 19. April 1970 in sein Notizbuch, ehe er mit dem Gang in die Seine seinem Leben ein Ende bereitete. Fünfzig Jahre später entstand mit meinem Bratschenkonzert «DEPART» eine Trauermusik zum Gedenken an diesen grossen Dichter, der wie kein anderer die Wunden des 20. Jahrhunderts zu benennen wusste. Ihm hatte ich bereits eine Reihe anderer Werke gewidmet, darunter die Oper «CELAN», die in meinem neuen Stück ein spätes Parergon erfährt. Die Solobratsche führt durch die Musik von «DEPART», die zwischen rauschhaftem Aufbegehren und verstummender musikalischer Gestalt changiert. Meine Empathie für Celan führt nicht selten zu Momenten des Aufbegehrens, des Ausbruchs – dann aber auch der epischen Zurücknahme ins Dunkle, Unbestimmte, in Stille und Auslöschung. «DEPART» wurde in den Monaten der aufkommenden Corona-Pandemie geschrieben.
– Peter Ruzicka
Zum Paradoxon des Aufbegehrens und des Verstummens passt das Celan-Zitat, das Mönkemeyer im Gespräch nannte: „Schwerer werden. Leichter sein.“ Das lässt sich durchaus auf die Musik anwenden, in der die Solo-Bratsche einen eher klagend-resignierenden als auftrumpfend-glänzenden Part spielte. Eine Trauerstimmung grundiert das ganze, was mit den Klangcharakteristika der Bratsche zu tun hat, aber auch mit der Instrumentierung, die mit Bassklarinette und Kontrafagott, mit Tuba und einer recht tiefenlastigen Streicherbesetzung (10-8-6-5-5) daherkam, aber eben auch mit einer Celesta und viel Schlagwerk. Im Gegensatz zum Furioso, das vor dem Verstummen noch einmal richtig auftrumpft, endet „Depart“ mit einem allmählichen Verklingen, geht quasi organisch in die Stille über – die leider sofort durch heftigen Applaus durchbrochen wurde. Dieser war mehr als verdient. Das Stück kommt quasi herbstlich, in Grau-, Grün- und Blautönen, mit dunklen Verschattungen daher – hat auch kammermusikalische Momente, Momente des Dialogs. Das gefiel mir sehr gut. Dass Mönkemeyer danach überhaupt eine Zugabe spielte, fand ich eigentlich fast ein wenig schade. „Danach kann man eigentlich nur Bach spielen“ – klar. Es gab einen Satz aus einer der Cello-Suiten, der sich für meine Ohren dann wie eine Fortsetzung der Klage aus dem Konzert davor anhörte, ein Trauergesang, ein Weinen fast.
Der erste Konzertblock war kurz – nur 40 Minuten. Aber keineswegs leicht an Gehalt. Der zweite war das ebensowenig, dauerte aber fast doppelt so lang. Um die 20 Minuten dauert „Isis“, ein sehr eigenwilliges Stück mit Frauenchor. Dieser steigt nach dem ersten Drittel ein, singt ausschliesslich auf den Vokal „A“ und verschmilzt immer wieder mit Stimmen des Orchesters, erzeugt oft eher den Effekt einer veränderten Orchestertextur als dass er so richtig als Chor wahrgenommen würde. Dass die Sängerinnen in der Ecke neben den Hörnern und Schlagzeugern auch beim Singen sitzen blieben, passt ganz gut dazu – fand auch Lisa Weiss, die im ersten Teil des Prélude vom Stück und den Proben erzählte (am Vorabend hatten sie frei gekriegt, weil die Proben so gut gelaufen seien, dass Ruzicka die letzte Probe direkt abgesagt habe). Ich zitiere gerne noch einmal Ruzickas Beitrag zum Programm – den Vergleich mit Messiaen finde ich passend, aber dann doch irgendwie wieder nicht:
In «Isis», jenem ebenfalls nur entworfenen und von Pascal Bentoiu nachinstrumentierten sinfonischen Gedicht für Frauenchor und Orchester aus dem Jahre 1923, sind die Vokalstimmen ähnlich Orchesterinstrumenten in das Klanggeschehen eingewoben. Die Vokalisen erscheinen wie Boten einer Himmelsmusik, die Isis, die ägyptische Zaubergöttin, anruft. Die zarte, überwiegend kammermusikalisch geprägte Partitur ist ein Stück der Farben, ganz so, wie es Olivier Messiaen einmal beschrieben hat: «Die Musik der Farben macht das, was die Glasfenster und Rosetten des Mittelalters tun: Sie beschert uns das Überwältigtsein, sie rührt gleichzeitig an unsere edelsten Sinne: das Gehör und das Gesicht. Sie erschüttert unsere Empfindungsfähigkeit, reizt unsere Einbildungskraft, lässt unsere Einsicht wachsen und bringt uns dahin, dass wir unsere Begriffe hinter uns lassen, um dort anzukommen, wo mehr als nur Vernunft und Intuition sind.»
Erst dann, ganz zum Schluss, folgte – erstaunlicherweise – das, was sich für mich am Ende als „the main event“ entpuppten sollte: die vierte Symphonie Enescus, ein dreisätziges Ungetüm von etwa 40 oder 45 Minuten Dauer, zu dem er den ersten und den Anfang des zweiten Satzes fertiggestellt hatte, den Rest aber nur skizzenhaft hinterliess. Den Rest der Orchestrierung übernahm im Jahr 1996 dann Pascal Bentoiu (1927-2016), der auch „Isis“ orchestriert hat und der auch ein Buch über Enescu geschrieben hat. Die Mischung aus eigenwilliger Klangsprache – Enescu verwendet die byzantinischen Kirchentonleitern und mischt sie mit den bekannten Dur- und Molltonleitern – und französischem Charm (Volker Tarnow spricht im Programmtext von „Pariser Esprit“), einer Art heiterer Melancholie, die dann aber in die Trauer kippt, fand ich enorm attraktiv. Aber auch fordernd. Ein wuchtiges und dennoch irgendwie recht zartes Stück, nicht annähernd so kristallin wie „Isis“, aber gerade die Kopplung – diese fast 70 Minuten Enescu am Stück – funktionierte für mich ganz hervorragend.
Am Ende pfiffen meine Ohren … so ist das halt mit den Plätzen im Parkett (der Platz in der 1. Reihe, den ich bei der Neuen Konzertreihe habe, ist diesbezüglich in Ordnung: klar, der Klang ist nicht ausgewogen, wenn ein ganzes Orchester spielt, aber ein Ohrenpfeifen kriege ich da nicht, der Klang zieht über meinem Kopf hindurch). Ich hatte mir gestern noch überlegt, für die zweite Konzerthälfte nach oben zu gehen, aber blieb dann doch dort, wo ich schon vor der Pause gesessen hatte (nicht eingequetscht zwischen vielen anderen in ein paar gut besetzten Reihen, wo mein Platz an sich gewesen wäre, sondern etwas weiter vorn – sich so umsetzen geht in der Tonhalle an sich selbst bei halbleeren Rängen nicht).
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba