Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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yaiza

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Konzerthaus Berlin
Festival „Aus den Fugen“
Do, 24.11.2022, 20h Großer Saal
UNDR – Goldberg Percussion – Konzert in der Mitte des dunklen Saals

Jean Rondeau, Klavier & Tancrède Kummer, Percussion
Klangregie: Silouane Colmet Daâge
Neue musikalische Ideen und Improvisationen basierend auf
den Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach

Aus den Fugen schien in dieser Woche nicht nur das Programm im Konzerthaus. Als der Bus kurz vor’m Alex stehenblieb und der Fahrer den Funk lautstellte, damit alle Fahrgäste den Verlauf der spontanen Umleitung mithören konnten, war ich schon wieder in der „flinke Hufe-Stimmung“. Da fährt man schon mit genügend Zeit los und muss gleich 2x nacheinander zum Konzerthaus rennen. Zum Glück ging’s dann doch schnell weiter. Ich kam spät in den Saal, fand noch einen Randplatz mit schönem Blick auf Drums & Bechstein, an welchem Jean Rondeau stand und sich verschiedene Utensilien zurechtlegte. Stoffbeutel schnell noch nach unten legen, ransetzen und los ging’s mit der Aria aus den Goldberg-Variationen. Nach und nach wurde es ruhiger, das Licht gedimmt bis es schließlich dunkel war. Und zu diesem Konzert war es tatsächlich richtig dunkel, da aufgrund des unbesetzten 1. Rangs das Licht an den Aufgängen zu den Logen ausgemacht werden konnte. Im ersten Teil hörte man Rondeau allein am Flügel. Als sich Percussionist Tancrède Kummer dazugesellte, stellte sich erst eine Jazz-Atmosphäre ein. Nach und nach wurden die Klänge roher und die beiden nahmen das Publikum auf eine spannende Experimentalreise mit. Zu hören waren Flügel & Drums und Steine, Ketten, Papier, Sticks … und ein noch seitlich stehendes Klavier wurde von Kummer bespielt. Ich freute mich, da ich eigentlich schon immer mal live über eine längere Zeit präpariertes Klavier hören wollte (bisher nur mal kurz mit Cédric Tiberghien). Ich mochte die Stimmung des Unerwarteten. Später wurden von Band auch Stimmen eingespielt. Irgendwie geschah immer wieder was neues. Nach und nach standen auch Leute auf und verließen leise den Saal. Vor mir hatten einige wohl etwas anderes erwartet; auf einmal waren 6 Plätze leer. Zwei betagte Damen schauten aus einem Nachbarblock kurz rüber und entschieden, sich das Ganze von noch näher anzusehen, was ich ziemlich cool fand.
Auf dem Programmblatt las ich später, die Fragen „Was bleibt, wenn die Musik auf die reine Essenz heruntergebrochen wird? Wenn der musikalische Inhalt fehlt? … wenn Worte und Texte keine Bedeutung mehr haben?“ Dann werde ich auch erst bemerken, dass alle Programmteile zwischen „Aria“ und „Aria da Capo“ mit dem Buchstaben „G“ anfingen und durchaus interessante Namen trugen, wie Grain, Graphe, Gigue, Grégorien, Gomorrhe, Ghetto, Golgotha, Goliath usw. Aber auch ohne Kenntnisse machte es mir Spaß, das Geschehen zu verfolgen. Es bleiben unglaublich viele Eindrücke… ein letzter Teil war wieder Rondeau allein überlassen, sein Spiel hatte zunächst noch viel Rohes (ich musste wieder an Bartók denken) und verfeinerte sich. Er beugte sich beim Spiel immer weiter herunter und als das Licht anging, sah man einen einen Flügel ohne Pianisten und hörte eine Einspielung vom Band. Ein herrliches Schlussbild, auch toll in Verbindung mit dem Kaltstart. Ich hatte nicht mitbekommen, wie er aufstand… Ich sah nur, dass jd. zur Tür hinausging, wusste aber nicht, dass es Rondeau war, der den Saal verließ. Es blieb noch ein bisschen beim Schlussbild und das verdutzte Publikum fing an zu applaudieren. Ich rechnete fast schon damit, dass wir beide Künstler nicht mehr sehen würden, aber sie kamen hinaus und nahmen den Applaus entgegen. Ein eindrucksvoller Abend mit starkem Programm.
Zur Mitte hin dachte ich, dass wir wohl gerade ganz schön weit von „Goldberg“ entfernt sind. Im letzten Drittel spürte ich, dass ich die Goldberg-Variationen wohl erstmal unter diesem Eindruck anders hören werde. Darauf freue ich mich auch schon.
UNDR (isländisch für „Wunder“) bezieht sich auf eine Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges. Die möchte ich bald noch lesen.

in La Grange Au Lac, Évian, Juni 2022:

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