Antwort auf: Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism, PC & Cancel Culture

Startseite Foren Kulturgut Das musikalische Philosophicum Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism, PC & Cancel Culture Antwort auf: Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism, PC & Cancel Culture

#11885183  | PERMALINK

nicht_vom_forum

Registriert seit: 18.01.2009

Beiträge: 5,864

bullitt

nicht_vom_forum
Als wirklich ernstgemeinte Frage: Gibt es irgendeine Quelle dafür, dass der Ravensburger Verlag die hier im Thread mal genannten 160 Tweets vor dem Zurückziehen der Veröffentlichung als so heftigen „Druck“ empfunden hat, dass er dem zwingend nachgeben musste?

Der Post auf Instagram ist doch da eindeutig genug, oder?

Naja… Das scheint mir ein mehr oder weniger zusammenkopierter Standardtext zu sein. Ich lese da aber immer noch keinen Druck und kein „Einknicken“ raus. Das kann immer noch beispielsweise mit einer unternehmensinternen Entscheidung wegen „Industrieschmodder“ zu tun haben; oder damit, dass die ursprüngliche Entscheidung für die Bücher intern, analog zur „besonders wertvoll“-Empfehlung für den Film, kontrovers und knapp war und nach der Kritik nochmal neu getroffen wurde; oder oder oder. Ich habe jedenfalls in mittleren und größeren Unternehmen schon einige Projekte in der Größenordnung von einigen 100.000 bis einigen Mio. Euro gesehen, die aus von außen kaum nachvollziehbaren Gründen von einem auf den anderen Tag gestoppt wurden – teilweise nachdem sie schon Jahre liefen.

Ich halte den Hergang „160 Tweets reichen schon aus, damit Ravensburger Angst bekommt und einknickt“ zwar für möglich, aber nach wie vor für etwas paranoid und nicht besonders wahrscheinlich. Wie gesagt: Ein typischer Twitter-Shitstorm sieht anders aus.

Aber wenn der Verlag das als „Anstoß“ für seine künftige Politik wahrnehmen sollte, wäre das ja noch schlimmer und nur noch ein kurzer Weg zu Amazons Diversity-Richtlinien, die ja nun wirklich niemand wollen kann.

Diese Diversity-Richtlinien sind wirklich unsäglich, drohen hierzulande aber m. E. nicht. Ganz prinzipiell bin ich allerdings, genau wie @.krautathaus, von „Slippery Slope“-Argumenten inzwischen ziemlich genervt – spätestens seit die US-Alt-Right in schöner Regelmäßigkeit Niemöller missbraucht: „First they came for the Nazis…“.

Auch generell kann ich nichts daran finden, wenn ein Kinderbuchverlag seine Produkte nach ethischen Gesichtspunkten auswählt und das vorhandene Angebot regelmäßig dahingehend überprüft. Im Gegenteil: „Verteidigung der Meinungsfreiheit“ auf der Metaebene ist mir in diesem Bereich wirklich deutlich weniger wichtig als dass konkret ein offenes, auf Gleichberechtigung und auf gegenseitiger Unterstützung basierendes Weltbild vermittelt wird – also ungefähr das „links-grüne“ Weltbild der typischen Kindergeschichten aus dem Neuen Testament, des kategorische Imperativs oder des deutschen Grundgesetzes.

nicht_vom_forum … Dass sich nach 40, 60 oder 130 Jahren der Zeitgeist ändert und man manches nicht mehr unkommentiert (oder überhaupt) verbreiten möchte, ist doch nicht verwunderlich.

Dass sich sich Zeitgeist ändert, ist sicher nicht verwunderlich. Dass man ihn als Gradmesser für kulturelle Erzeugnisse aus anderen Epochen nimmt, hingegen sehr. Verbannung, Kommentierung und betreute Rezeption war bisher jahrzehntelang primär Nazi-Werken vorbehalten. Jetzt reden wir von Kinderserien aus den 80er Jahren [..]

Der allergrößte Teil der früheren kulturellen Erzeugnisse musste doch vor Amazon und Co. gar nicht verbannt oder kommentiert werden: Er wurde schlicht nicht mehr aufgelegt und war alleine dadurch im Zugang auf das interessierte und bereits informierte Publikum begrenzt. Es verlangt ja auch jetzt niemand, dass man durch Bibliotheken und Antiquariate geht und Disclaimer in die Bücher klebt.

Der primäre Unterschied von jetzt zu „früher“ (also der Zeit ohne Disclaimer) ist doch, dass die damaligen Erzeugnisse überhaupt als aktuelle wiederveröffentlichte Ausgaben einfach zu bekommen sind und man sich deshalb als heutiger Verleger irgendwie zu ihnen positionieren muss. Beispielsweise die Jugendliteratur der 50er war doch 30 Jahre später im Grunde nur noch antiquarisch verfügbar.

Du hattest doch gerade noch völlig zu Recht bemängelt, dass die Verfügbarkeit von historischen Stoffen bei z.B. Streaming-Diensten eher deutlich ab- als zunimmt? Ich behaupte mal, vor 30, 40 Jahren (also der Zeit ohne Disclaimer) hatten Kinder und Jugendliche via TV, Radio, VHS und DVD deutlich häufiger Zugang zu jahrzehntealten Filmen, Serien und Musik als heute und Kinderbuchklassiker waren an der Tagesordnung.

Was ich bemängelt habe, ist wie Disney, Netflix und Co. mit ihren Franchise-basierten Produkten und der auf „Viralität“ ausgerichteten Produktion in den letzten 20 Jahren jede Art von Vielfalt in der Mainstream-Kultur erstickt haben. Sowohl originelle neue Produkte als auch Klassiker werden anteilsmäßig gnadenlos verdrängt und marginalisiert. Die absolute Verfügbarkeit gerade von alten Medien ist doch ganz offensichtlich massiv gestiegen: Amazon liefert FSK-18-Filme, ZVAB ersetzt jahrelanges Suchen in Antiquariaten, Discogs bietet gleiches für Platten und CDs usw. usf. Case in Point: Um die klassischen Kurosawa-Filme überhaupt sehen zu können, musste ich sie mir in den 90ern als VHS-Kassetten aus London mitbringen – jetzt ist das ein Klick auf Amazon. Auf DVD dürfte es inzwischen mehr Film und Fernsehen geben als jemals sonst für Privatpersonen verfügbar war.
Ach ja: noch ein Punkt zum „Zugang“ zu Filmen und Serien: Heute heißt „Zugang“ doch im Grunde on-demand. „Früher“ hatte man halt Pech, wenn man den Film (oder auch nur den Anfang) verpasst hatte und musste warten, bis er ein paar Monate oder Jahre später nochmal irgendwo gesendet wurde – dann gerne auch in einem Dritten Programm, das lokal nicht empfangbar war. Diese beiden Arten von „Zugang“ sind doch nichtmal annähernd miteinander vergleichbar.

Dass man älterem Kulturgut ein Bedrohungspotential zuschreibt und niemandem nicht mehr zutraut, es richtig einzuordnen, ist hingegen ziemlich neu und ziemlich krank.

Dass man Kulturgut Bedrohungspotential zuschreibt und anderen nicht zutraut, es richtig einzuordnen, ist doch überhaupt nicht neu – „älteres Kulturgut“ hin oder her.

--

Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away.  Reality denied comes back to haunt. Philip K. Dick