Antwort auf: Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism, PC & Cancel Culture

Startseite Foren Kulturgut Das musikalische Philosophicum Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism, PC & Cancel Culture Antwort auf: Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism, PC & Cancel Culture

#11857531  | PERMALINK

bullitt

Registriert seit: 06.01.2003

Beiträge: 20,633

herr-rossi
Du hast Dich doch offensichtlich auf den WELT-Kommentar bezogen, und der zitiert diese beiden Äußerungen aus der Werteunion und aus der FDP. Bei meinen Rechercheversuchen habe ich keine weiteren gefunden.

Ich habe den Welt-Artikel hier überhaupt nicht erwähnt, wenngleich ich ihn natürlich kenne und die Aussagen des Juristen dort teile. Das Thema wurde aber logischerweise auch anderorts diskutiert und ich habe mir erlaubt, meine eigenen Schlüsse daraus zu ziehen.

Ich halte es für ein wichtiges demokratisches Recht, dass auch Interessenvertretungen von Minderheiten wie der Zentralrat der Sinti und Roma Vorfälle dokumentieren dürfen, die ihrer Ansicht nach diskrimierend sind. So etwas ist bislang in Deutschland nie in Frage gestellt worden, aber unter dem Vorzeichen der Wokeness-Kritik wird aus Interessenvertretung auf einmal „Denunziantentum“. Du bist also der Auffassung, dass es dem Zentralrat nicht um eine statistische Dokumentation geht, sondern dass er dem Wokeismus erlegen ist und es eigentlich darum geht, unliebsame Personen zu erfassen und zu verfolgen?

Der Zentralrat mag hehre Ziele haben, darum geht’s mir gar nicht. Dass man offen als Begründung Misstrauen gegenüber rechtsstaatlichen Strukturen angibt, ist natürlich trotzdem völlig inakzeptabel, aber ein anderes Thema. Mir geht es darum, dass bei Meldestellen für „queerfeindliche und rassistische Vorfälle“ nicht absehbare Kollateralschäden entstehen, wie wir sie aus den USA und dem UK inzwischen kennen. Dass die eigene (pop)kulturelle Sozialisation immer mehr ins Fadenkreuz genommen wird, scheinen viele noch nicht begriffen zu haben, weil sie die Problematik in ein obsoletes Rechts-Links-Schema aus den Neunzigerjahren pressen wollen.

Deine Logik heißt am Ende also: Wer irgendein Problem hat, soll zur Polizei gehen und ansonsten darüber schweigen, weil alles andere „Denunziation“ ist? Sollte dann die Presse nicht ihre investigative Tätigkeit einstellen? Was bilden sie sich eigentlich ein, den Job von Polizei und Staatsanwaltschaften zu machen? Der Gang zur Polizei ist eine schwere Hürde, und das ist einerseits richtig, denn jemanden anzuzeigen, ist eine schwerwiegende Entscheidung.

Ich habe den Begriff der „Denunziation“ hier nie eingebracht, weil ich den auch nicht so pauschal verwenden würde. Deshalb werde ich ihn hier auch nicht verteidigen. Ich kritisiere das staatlich organsierte Sammeln und Auswerten zu nicht klar definierten „Vorfällen“ zu zunehmend ideologisch besetzten Themen. Was hat das mit Pressefreiheit zu tun? Eben drum, es gibt zig  Möglichkeiten sich Gehör zu verschaffen, Beratungsstellen aufzusuchen, rechtliche Schritte einzuleiten, Diskurse anzustoßen etc.. Dafür braucht es keine staatlichen Meldestellen.

herr-rossi
Wenn fast 1.100 Werke für Studierende im Grundstudium mit „trigger warnings“ verbunden sind, fragt man sich schon, ob nicht besser vor einem literaturwissenschaftlichen Studium insgesamt gewarnt werden sollte, wenn man unter unbewältigten Traumata leidet … Es hat tatsächlich einen übergriffig-paternalistischen Zug, Werke der Literatur quasi mit „parental advisory“-Stickern zu versehen und das auch noch von Seiten der zuständigen Fachwissenschaft.

Dann sind wir uns da ja einig. Es offenbart sich hier eine krude, illiberale Denkweise, die man unter anderen Vorzeichen immer abgelehnt hat. Mir ein Rätsel, wie das in dieser Form so lange bagatellisiert werden kann. Und es hat eben längst das eigene Platten- und Bücherregal erreicht und das Ende der Fahnenstange scheint noch längst nicht erreicht zu sein. Um ein Beispiel aus Yücels Artikel zu zitieren:

William S. Burroughs‘ „Naked Lunch“ wurde nach dem Erscheinen 1959 nicht einmal rezensiert, in den USA zeitweilig als „literarischer Abschaum“ verboten. Es dauerte Jahrzehnte, bis der Klassiker der Drogenfantasien in Buchform als eines der wichtigsten Werke der Beatgeneration in den Kanon der amerikanischen Literatur aufgenommen wurde. Im walisischen Cardiff ist das Buch nun wegen „schockierender oder kontroverser Sprache“ wieder rausgeflogen. Dort kann man „zeitgenössische urbane“ US-Literatur des 20. Jahrhunderts studieren und auf Burroughs verzichten.

zuletzt geändert von bullitt

--