Antwort auf: Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism, PC & Cancel Culture

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herr-rossi
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bullittWas für ein Angriff auf die eigene geistige Existenz
Heute erschienen. Passt ja gerade ganz gut. Deniz Yücel über literarische Säuberungsaktionen an englischen Unis. Schönreden wird langsam unmöglich. (Und nein, Deniz Yücel steht nicht der Werteunion nahe :))

Na endlich, die Sektkorken knallen.:) Ok, ich hole mir jetzt auch ein WELT-Online-Abo und dann treffen wir uns hier täglich zum wohligen Austausch von Wokie-Gruselgeschichten …

Im Ernst: Ja, das ist ein Problem. Der Kommentar geht offensichtlich zurück auf einen Times-Artikel und dessen inhaltlichen Kern kann man hier nachlesen. Wenn fast 1.100 Werke für Studierende im Grundstudium mit „trigger warnings“ verbunden sind, fragt man sich schon, ob nicht besser vor einem literaturwissenschaftlichen Studium insgesamt gewarnt werden sollte, wenn man unter unbewältigten Traumata leidet …

Es hat tatsächlich einen übergriffig-paternalistischen Zug, Werke der Literatur quasi mit „parental advisory“-Stickern zu versehen und das auch noch von Seiten der zuständigen Fachwissenschaft. Mir ist nicht klar, was mit dem Warnhinweis verbunden ist, ob Studierende die Lektüre solcher Werke verweigern können. Die Texte sind jedenfalls nicht aus dem Studium oder aus den Bibliotheken verbannt. Es wurden zwei Fälle dokumentiert, in denen Texte aus dem Lektürekanon für bestimmte Lehrmodule ausgetaucht wurden wegen angeblich zu drastischen Schilderungen. In einem Fall ging es um ein „creative writing“-Modul, also keine wissenschaftliche Beschäftigung mit Texten, sondern ein Kreativseminar.

Mir ist dieses Modulsystem nicht vertraut, ich kenne es aus dem Studium (Geschichte/Deutsch vor rund 30 Jahren) so, dass jeder Dozent eigenständig entschieden hat, welche literarische Texte bzw. historischen Quellen und welche Sekundärliteratur für seine jeweilige Veranstaltung relevant waren, die standen dann auch für alle zugänglich im Semesterapparat. Für Referate und Seminararbeiten wurde allerdings erwartet, dass man auch selbständig bibliographiert und recherchiert. Aber seither hat sich an den Unis viel verändert, und es waren nicht die „Wokies“, die das Studium grundlegend verändert haben (Bologna-Prozess). Wenn in diesem Modulsystem offensichtlich von höherer Stelle entschieden wird, welche Texte zu lesen sind, hätte ich an das System insgesamt einige Fragen …

Wie dem auch sei: Irgendwer entscheidet immer, welche Texte in einer Lehrveranstaltung „Kanon“ sind und welche nicht, und die Öffentlichkeit hinterfragt in der Regel nicht, welchen Kriterien diese Entscheidungen unterliegen. Dass Großbritanniens abgewirtschaftete Tories derzeit voll auf den war on woke setzen, weil sie sonst nichts mehr zu bieten haben, richtet natürlich den Fokus auf solche Fälle, die ins Bild passen. Problematisieren muss man sie gleichwohl.

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