Antwort auf: Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism, PC & Cancel Culture

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herr-rossi
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bullittDanke für die Infos. Und nun? Es geht hier grundsätzlich um Grenzüberschreitungen des Staates, wo nicht mal eben der Zweck die Mittel heiligen kann und man bei der nächsten Regierungskonstellation wieder einen Riegel vorschiebt. Es geht eben nicht um ein „Monitoring von Straftaten“, sondern um defacto rechtmäßiges Verhalten, was laut NRW-Justizministerium „gesellschaftlich nicht zu billigen ist“. Seit wann entscheidet der Staat, was gesellschaftlich zu billigen ist und was nicht? Man stelle sich vor, die AfD kommt in Sachsen in Regierungsbeteiligung und agiert unter dieser Prämisse?
Nun mag beim Thema Antisemitismus aus Gründen vielleicht ein Sonderfall vorliegen, der eine Ausnahme rechtfertigt, aber das kann doch keine Blaupause für x-beliebige weitere „Meldestellen“ sein. Man muss es sich doch nur mal auf der Zunge zergehen lassen: Meldestelle XY für „Vorfälle auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“, um „darauf ggf. seitens der Politik besser reagieren zu können“? Ernsthaft? Die Stasi-Assoziation hast du ja praktischerweise gleich selbst mitgeliefert, dann kann ich mir die ja sparen.

Die Stasi-Assoziation habe ich nicht geliefert, sondern Simone Baum von der Werteunion, also den Erzkonservativen in der CDU. Der FDP-Bundestagsabgeordnete sprach von einem SED-ähnlichen Blockwart-System (womit er dann auch gleich die Kurve zur NS-Zeit andeutet). Man fragt sich natürlich, ob er dieses „Fräsen des Rechtstaates“ bereits angemahnt hat, als sein FDP-Parteifreund als damaliger NRW-Minister dieses Projekt ankündigte, oder ob es erst so gefährlich wurde, nachdem es von seiner grünen Nachfolgerin aufgegriffen wurde. Auf einmal ist es jedenfalls „grünes Moralwächtertum“.
Das Ganze ist vor allem erstmal parteipolitisches Getöse und ein Paradebeispiel für „Framing“.

Die bereits bestehenden und geplanten Meldestellen Antisemitismus, Antiziganismus usw. sind erstmal überhaupt keine neuen Behörden oder Einrichtungen des Landes, sondern werden von Vereinen getragen und von den Ländern gefördert. Solche Einrichtungen können überhaupt keine Daten über einzelne „Täter“/“Verdächtige“ oder wie man es auch immer dramatisieren möchte sammeln. Und darum geht es ja auch gar nicht. Es geht um Diskriminierungserfahrungen, die dokumentiert werden, und zwar anonymisiert. Hier kann man sich beispielsweise über die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus informieren, Zitat:

„Die Hemmschwelle, Sinti und Roma in Deutschland verbal und physisch anzugreifen, ist weiterhin sehr niedrig, wie die Zahlen der Bundesregierung zu antiziganistischen Straftaten belegen. Seit vier Jahren wird Antiziganismus als eigenständige Kategorie in der Statistik des Bundes für Politisch motivierte Kriminalität (PMK) erfasst. Seitdem haben die Fallzahlen stetig zugenommen und sich mehr als verdreifacht (Fallzahlen: 2017: 41; 2018: 63; 2019: 81; 2020: 128). Doch die deutsche Öffentlichkeit nimmt bislang kaum Notiz vom Ausmaß antiziganistischen Straftaten und die Betroffene bleiben häufig mit dem Erlebten alleine. Die Fallzahlen auf niedrigem Niveau zeigen, dass nur ein Bruchteil der Straftaten von Betroffenen zur Anzeige gebracht wird. Das mangelnde Vertrauen in die Strafverfolgung ist einer von vielen Gründen. Denn allzu oft werden Straftaten von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden nicht als antiziganistisch motiviert angesehen oder bagatellisiert. Hinzu kommt das historisch stark vorbelastete Verhältnis von Sinti und Roma zu staatlichen Strukturen, insbesondere zu Polizeibehörden. Das ausgeprägte Misstrauen in staatliche Strukturen ist eng mit der Verfolgungserfahrung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus verknüpft. Dabei haben die negativen Erfahrungen – vor allem mit der Polizei – nicht nur die Holocaust-Überlebenden geprägt, sondern auch die nachfolgenden Generationen.“

Hier kann man sogar den Meldebogen einsehen.

Es gibt Petitionsstellen bei den Parlamenten, es gibt Verbraucherschutzzentralen, es gibt Gleichstellungsbeauftragte in Behörden und Betrieben, es gibt überall Anlaufstellen für die unterschiedlichsten Zielgruppen, an die man sich wenden kann, wenn man meint, dass man bei einem Anliegen Hilfe Dritter benötigt, wenn man meint, dass einem etwas widerfährt, das ungerecht ist – aber oft genug eben kein Straftatbestand. Das ist alles völlig selbstverständlich und niemand käme auf die Idee, das als „Denunziantentum“ zu rahmen.

Es ist einfach Unsinn zu suggerieren, dass es hier darum ginge, eine Datenbank über Träger von Dreadlocks oder Besitzer von „Drei Fragezeichen“-Cassetten anzulegen und „grünes Moralwächtertum“ durchzusetzen. Es geht um Diskriminierungserfahrungen von Minderheiten, die von diesen Erfahrungen laut Grundgesetz eigentlich geschützt sein sollten.

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