Antwort auf: Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism, PC & Cancel Culture

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nicht_vom_forum

Registriert seit: 18.01.2009

Beiträge: 5,857

Disclaimer: Die meisten meiner folgenden Beispiele kommen aus den USA, es ist wohl offensichtlich, warum. Mir geht es in diesem Post um die Sprachregelungen. Eines der Grundprobleme der ganzen Wokeness-Diskussion ist ja, dass zwar die Slogans nach Deutschland kommmen, die entsprechenden gesellschaftlichen Probleme, aber in jedem Fall anders und in vielen Fällen kleiner sind (oder, wie im Fall Sklaverei und ihren Folgen, gar nicht vorhanden).

latho
Ich bin der Meinung, dass Menschenrechte für alle (Menschen) gelten und es deswegen unnötig ist, zu dem Satz „Alle Menschen sind gleich“, danach noch „Frauen auch“, „Homosexuelle auch“, „Lesben auch“ etc hinzuzufügen, der ursprüngliche Satz reicht aus, wird er nicht angewandt, ändern ein paar Buchstaben auf dem Papier nichts

Hmmm… Im Prinzip ja, aber… Um mal das prominenteste Beispiel herauszugreifen: Der „Black Lives Matter“-Bewegung geht es um statistisch überproportionale und im Einzelfall überaggressive Gewalt der US-Polizei gegen Schwarze. Das mit „All lives matter“ zu kontern, ist zwar natürlich nicht falsch, ist aber absichtliches Missverstehen. Und rein logisch: As long as „black lives“ don’t matter, „all lives“ don’t matter either. Hinsichtlich der US-Diskussion ist die Sachlage, historisch betracht ja auch weniger eine Frage von „Alle Menschen sind gleich“, sondern dass „All men are created equal“ eine Fußnote braucht, die „women are men“, „gays are men“, „black people are men“ ergänzt.

Natürlich gibt es Menschenfeindlichkeit, aber das heißt ja nicht, dass Nicht-identitäre Linke nicht auch etwas dagegen haben – aber da – Bürgerkriegskultur, im Identitären angelegt – beißt die Maus kein Faden ab: bist du nicht für uns, bist du gegen uns.

Das hat seinen Ursprung aber m. E. in den wesentlich polarisierteren Gesellschaften in den USA und im UK. Und ich habe schon den Eindruck, dass die „Rechts-Identitären“ den Identitätsbegriff eingeführt und somit die Linien gezogen haben: Rassentrennung in den USA (siehe One-Drop-Rule) war ja keine Erfindung der Schwarzen oder der Iren. Die Linke hat ihn m. E. nur aufgegriffen und adaptiert. (Disclaimer: Das ist natürlich die twitteresque Kurzfassung eines komplexen Themas)

Und die Auseinandersetzung gegen „Abweichler“ wird im Normalfall wie ein brutalisierter Rosenkrieg geführt (man nehme zB den Fall J.K. Rowling).

Die UK-Diskussion zum Thema Transgender ist ein unangenehmer Sumpf, den ich zwar beobachte, aber noch weniger als die US-Themen diskutieren möchte (und werde). Nur so viel: J. K. Rowling ist nicht nur irgendein „Abweichler“ mit privaten Meinungen. Sie ist eine der reichsten Frau im UK, ist weltweit vielleicht sogar die bekannteste Frau aus UK, und sie verhält sich aktiv trans-feindlich (Stichwort: Trans Exclusionary Radical Feminist). Das führt natürlich auch zu entsprechend großen Gegenreaktionen.

nicht_vom_forum Das ist allerdings immer noch meine tatsächliche Wahrnehmung. Es gab jetzt 2 deutsche/schweizer Fälle, bei denen Dreadlocks irgendwie thematisiert wurden und das gesamte Feuilleton bekommt Schnappatmung.

Deswegen sagte ich ja: hätte man dem Gemeckere der angeblich ins Unwohlsein Beförderten stand gehalten, hätte es ein paar Wellen auf Twitter gegeben und dann Ruhe. Aber nachdem vor allem die eigene Blase die Auswirkungen überschätzt („bloß kein shitstorm, bloß kein shitstorm“) agiert man da teilweise im Vorauseilenden Gehorsam

Ja. Und das ist nicht gut – keine Frage.

Aber es sind ja nicht nur zwei kleine Vorfälle und ansonsten bekommt man davon nichts mit: in den Feuilletons finde ich tagtäglich irgendwelchen identitären Quatsch,

Irgendwie sind es meiner Wahrnehmung halt doch zwei (oder sagen wir „kleiner 10 in mehreren Jahren“) Vorfälle, an denen tatsächlich inhaltlich was dran ist. Bei den meisten anderen Fällen sehe ich Form und Ausmaß der „linksidentitären“ Proteste als Problem, inhaltlich gibt es dann doch meistens einen Punkt, der zumindest vertretbar ist.
Die vermeintlichen Opfer sind ja oft auch nicht so naiv, wie sie sich darstellen (Ich habe doch nur „All lives matter“ gesagt und jetzt werden ich vom Wokeness-Mob gecancelt.). Dazu kommen dann noch diverse Fälle, bei denen sich Leute als Wokeness-Opfer darstellen, aber der eigentliche Auslöser der Konsequenzen ein anderer Grund ist, beispielsweise ein arbeitsrechtlicher.

ich bin im täglichen Leben auch, sagen wir öfters, mit Sprachregelungen konfrontiert (zB, dass eine Kollegin vor einiger Zeit forderte, den main branch der Entwicklungslinie nicht mehr „master“ zu nennen, weil das ja an Sklaverei erinnerte).

Das kommt halt aus der Computer-Terminologie. Auch hier wieder: Gegen den „Master“-Begriff als solches gibt es m. E. eigentlich nichts einzuwenden. Ich finde es aber eine nachvollziehbare Kritik, dass man aber nicht unbedingt von Master- und Slave-Festplatten (-Servern, -Datenbanken) etc. sprechen muss – und dieses Begriffspaar war eben über Jahrzehnte üblich. Dass das diese Diskussion dann auf „Blacklist/Whitelist“ ausgedehnt wird, finde ich zwar idiotisch, mir ist aber meine Zeit zu schade, mich darüber wirklich aufzuregen.

Es ist ein bisschen so wie nach dem Wahlsieg der Republikaner in Virginia, ein mittlerweile als demokratisch geltender Staat, in dem die Demokraten, nach einer Wahl, in der es auch um Schulpolitik ging, „critical race theory“ erst als nicht schlimm, dann als nicht existent erklärten, um dann die Republikaner bzw deren Wähler als Rassisten abzutun.

In die öffentliche Debatte eingeführt hat den Begriff „Critical Race Theory“ aber die US-amerikanische Rechte, die mit dem Popanz CRT alle nötigen und berechtigten Diskussionen über die rassistische (in jeder Bedeutung des Begriffs) Vergangenheit der USA und über das Thema Sklaverei abwürgt – genau wie sie mit den Begriffen „Communism/Socialism“ jede Art von Diskussion zu sozialen und wirtschaftlichen Themen einfach beendet.

Dass den Linksidentären mehr und mehr der Wind ins Gesicht bläst, ist ja kein Zufall.

Nein, Zufall ist es mit Sicherheit nicht.

zuletzt geändert von nicht_vom_forum

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