Antwort auf: Klassik-Glossen

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gypsy-tail-wind
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Lisa Batiashvili spricht Klartext – hab grad einen Ausriss aus der NZZ am Sonntag vom 24.4. gekriegt, ein Artikel von Anna Kardos auf Seite 55 unter der Überschrift „Sie will dem Tyrannen die Klassik entreissen“ (bzw. online: https://magazin.nzz.ch/empfehlungen/stargeigerin-lisa-batiashvili-will-putin-die-klassik-entreissen-ld.1680705 – ich zitiere nach der Papierversion, die da und dort etwas von der Online-Fassung abweicht, weniger Absätze und auch andere Zwischentitel hat). Ein paar Sachen kürze ich raus (Currentzis, Rodulgin, das hatten wir alles schon bzw. es ist längst bekannt:

Kann ein G-Dur-Akkord kriegstreibend sein? Dieser wohltönende und nonverbale Zusammenklang von Tönen, ohne Parole, ohne Plot? Wenn es nach Stargeigerin Lisa Batiashvili geht, ist die Antwort: Ja. Zumindest wenn dieser G-Dur-Akkord an einem russischen Festival, in einem russischen Konzerthaus oder von einem russischen Orchester gespielt wird. «Obwohl man sagt: Kultur ist nicht Politik, ist die Kultur in Russland stark mit der Politik verhängt, und für Putin ist seine Unterstützung der Kulturwelt sehr, sehr wichtig», sagt sie. Und damit meint Lisa Batiashvili für einmal nicht die Aushängeschilder namens Valery Gergiev oder Anna Netrebko, deren Nähe zum Präsidenten bekannt ist – und die die Geigerin als dessen «laute Unterstützer» bezeichnet, sondern sie meint genauso die «leisen». Also alle, die schweigen – und auftreten.

«Wir haben lange der Tatsache nicht in die Augen gesehen, wie viele Veranstalter, Orchester, Festivals von den Verbündeten Putins profitiert haben», sagt Lisa Batiashvili und spricht dabei konsequent von «wir», obwohl sie selbst seit Jahrzehnten – ebenso konsequent – auf Auftritte in Russland verzichtet. Weil sie sich sicher ist, dass man als Musikerin oder Musiker wissen kann, wie eng Politik und Kultur in diesem Land ineinander verzahnt sind: «Jeder Künstler, der dorthin ging, wusste das – und auch, dass es hohe Honorare gibt. Aber konsequent waren die wenigsten».

Wohlklingende Geldwaschanlage

Namen nennen mag sie keine. Das muss sie auch nicht. Es reicht, die Programme von Valery Gergievs Marinsky-Orchester durchzuklicken. Da findet sich Yuja Wang genauso wie Gautier Capuçon oder Janine Jansen. Und damit nicht genug. Seit einigen Wochen tauchen Musikernamen sogar in internationalen Medien auf. Darunter jener von Teodor Currentzis, der mit seinem Ensemble Musicaeterna nach Jahren in der Provinz in der Metropole St. Petersburg angekommen ist und finanziell von der VTB-Bank unterstützt wird, die gemäss dem Wiener «Der Standard» auf der Sanktionsliste der EU steht.
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Gemäss der «Süddeutschen Zeitung» ging 2016 aus den Panama-Papers hervor, dass «über Offshore-Firmen, die mit dem russischen Cellisten Sergei Rodulgin in Verbindung standen, zwei Milliarden Dollar geflossen sind».
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Von dieser Realität habe man sich in Westeuropa über die Jahre «ein bisschen ferngehalten», sagt Lisa Batiashvili. «Leider spielte dabei nicht nur der Glaube an den Frieden eine grosse Rolle, sondern auch Eigeninteressen.» Sie habe sich das oft zu erklären versucht. «Die einzige Antwort, die ich fand, ist, dass die Menschen sich über die Ernsthaftigkeit der Lage nicht bewusst sind, weil diese hauptsächlich Menschen in Osteuropa betrifft und Menschen in Westeuropa das kaum wahrnehmen.» Das habe man beispielsweise nach Putins Einmarsch in der Ukraine an der Reaktion der Polen gemerkt, «sie reagierten viel schneller als Westeuropa».

Im Allgemeinen ist auch die Klassikwelt wenig reaktionsfreudig, was politische Fragen angeht. «Wir sagen, dass wir Brücken bauen wollen, und entziehen uns damit der Verantwortung», sagt die Geigerin. Und wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die wenigen klassischen Musikerinnen und Musiker, die sich politisch engagieren, alle in der ehemaligen Sowjetunion geboren sind: Igor Levit in Russland, Christina Daletska in der Ukraine, Lisa Batiashvili 1979 in Georgien.

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1989 erlebte Batiashvili als Zehnjährige, wie eine Demonstration von sowjetischen Panzern niedergeschlagen wurde: «Zwanzig Menschen wurden getötet und Hunderte verletzt, als sie für die Unabhängigkeit demonstrierten. Darunter waren sehr viele Junge, 15-jährige, 16-jährige.»

Das habe sie geprägt. Denn in Osteuropa – und damit im toten Winkel der europäischen Wahrnehmung «war die Aggression Russlands immer sehr präsent». Schon vor Jahrzehnten. Auch eskalierte sie mehrfach. 2008 in Georgien mit dem Fünf-Tage-Krieg (seither besetzt Russland die Gebiete Südossetien und Abchasien) oder 2014 mit der Annexion der Krim. «Putin hat es 2008 in Georgien ausprobiert, die Welt hat weggeschaut. 2014 in der Ukraine, die Welt hat weggeschaut. Und jetzt tut er es auf einer sehr grossen Fläche», so Batiashvili.

Weil es alle betrifft

Jetzt sei der Moment gekommen, der Realität ins Auge zu sehen: «Denn es ist nicht nur eine ukrainische Geschichte, sondern sie betrifft uns alle. Und es geht nicht um Musik, sondern ums Leben.»

Auf die Frage, ob sie als Mutter zweier Kinder keine Angst habe, antwortet sie: «In diesem wichtigen Moment ist kein Platz für Angst. Wenn wir jetzt aus Sorge um unsere eigene Sicherheit schweigen, entziehen wir uns jeder Verantwortung für die Zukunft und für essenzielle Fragen wie: In welchem Staat wollen wir leben? Wie wollen wir als Gesellschaft funktionieren?»

Deshalb hat Batiashvili schon 2015 auf dem Maidan gespielt, deshalb initiierte sie jetzt in Berlin ein Benefizkonzert für die Ukraine, deshalb überweist ihre Lisa-Batiashvili-Foundation Geld an Musiker, die im Land bleiben mussten. Und deshalb postet sie auf Social Media Artikel über die Verstrickung von Klassik und Politik, über das Zögern des Westens und unter anderem auch über die Frage: «Warum sind wir Künstler, wenn wir sogar im Krieg keine Haltung zeigen?»

Während also klassische Musik in Russland als Aushängeschild von Putins Politik oder als Geldwaschanlage funktioniert, kehrt die Geigerin die Vorzeichen um und macht Klassik zu ihrer Verbündeten im Kampf um mehr Demokratie. Denn vielleicht ist es so, dass sich in Westeuropa in den vergangenen Jahrzehnten schleichend der Gedanke festgesetzt hat, Demokratie sei etwas, das sich in einer Verfassung verankern lässt, Schwarz auf Weiss, unerschütterlich und unzerstörbar. Für Batiashvili ist Demokratie viel flüchtiger: «In einer demokratischen Welt zu leben, ist ein Privileg, für das wir Verantwortung übernehmen müssen», sagt sie. «Jeder muss sich dafür einsetzen und ihr Sorge tragen. Alles andere ist ein Verrat an ihr.»

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #163: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records (Teil 2), 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba