Antwort auf: jazz in den 1990ern

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redbeansandrice

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Meine persoenliches Zeitgefuehl beginnt im Januar 1987… damals wurden die etwas verstaendigeren Kinder im Kindegarten in den Nebenraum gerufen und Frau Sauer, die Erzieherin der anderen Gruppe teilte uns mit: „Heute beginnen wir ein neues Jahr. Wir nennen es Neunzehnhundertsiebenundachtzig.“ Kam mir damals etwas beliebig vor, aber man hat sich dran gewoehnt. Spaeter im gleichen Jahr kam ich in die Schule, bekam meine erste Blockfloete… 1989 fiel dann die Berliner Mauer, ich war skeptisch, aber was sollte man tun, und meine Eltern teilten mir mit, dass es mit der Blockfloete reicht, und ich von nun an ein richtiges Instrument lerne, Klarinette, bitte jeden Tag 20 Minuten ueben – ich war kein Kind, das sowas hinterfragt hat. 1991 kam ich auf Gymnasium, ab der siebten Klasse, September 1993, spielte ich dann in der Schulbigband, anfangs vierte Trompete mit der Klarinette, in der neunten Klasse hab ich den Lehrer ueberredet, dass es doch mehr Sinn machen wuerde, wenn die Klarinetten quasi die Altsaxophone doppeln, ab der 11. Klasse bis zum Abitur hab ich dann Tenorsaxophon gespielt. Und natuerlich setzt man sich in so einer Schulbigband mit Jazz auseinander, mit dem swingen der Achtelnoten, mit improvisierten Soli, die ich ab der zehnten Klasse auch gelegentlich spielen durfte… und ab irgendwann hatte man dann auch eigene Jazzbands neben der Schule… den Traum von dem einen Solo, das wirklich irgendwie ok ist, hab ich allerdings in all den Jahren nie erreicht…

Ungefaehr 1994 teilten mir meine Eltern mit, dass ich Jazzfan sei. Ich weiss nicht, wie sie drauf kamen, sie waren selber keine, und kannten auch kaum welche – wobei ich einen der besten Freunde meines Vaters noch gelegentlich bei Konzerten gesehen hab ueber die Jahre. Vielleicht hat mein Vater sich gedacht, dass man mittelfristig mehr aus der ganze Sache mit der Big Band und dem Klarinettespielen ziehen kann, wenn man eine echte Beziehung zu der Musik aufbaut – er starb 1999 und ich hab ihn nie gefragt. Vielleicht waere er auch selber gerne Jazzfan gewesen, ein paar LPs von ca 1970 hatte er, aber zu Hause lief nur Klassik. Ich hab ihm spaeter ein paar Jazzkassetten fuers Krankenhaus gemacht, Mingus fand er gut und Roland Kirk, und vielleicht haette sich daraus was entwickelt. Jedenfalls gaben sie mir das Jazzbuch von Behrendt und ich hab das sehr ernsthaft studiert um mich auf ein Leben als Jazzfan vorzubereiten – letztlich hab ich ueber die Jahre nicht sehr viele so direkte Ansagen von meinem Vater bekommen. Die Jahre von 1994 bis 2001 war ich jedenfalls neben der Schule – man hat ja doch recht viel Zeit – eigentlich ueberwiegend mit Jazz beschaeftigt, es ist ein grosses Thema. 2001 begann dann das Studium und Jazz passte irgendwie nicht mehr so recht in mein Leben, ich hab dann erstmal andere Musik gehoert, angefangen den Rolling Stone zu lesen und den entsprechenden Kanon von Townes van Zandt bis zu den Libertines nachzuarbeiten… aber das war spaeter… und 2006 kam der Jazz dann zurueck, ich merkte, dass ich wieder „staerkere Musik“ brauche, versuchte mich zwei Wochen als Klassikfan um dann zu merken, dass Jazz meine eigentliche Musik ist…

Was tat man also als angehender Jazzfan in der zweiten Haelfte der 90er Jahre… Aus dem Behrendt Buch hatte ich mir eine Liste von Saxophonisten gemachten, die interessant klangen, Coleman Hawkins, John Coltrane, Paul Desmond, Charlie Parker, Jan Garbarek, und kaufte von jedem eine CD, die mir zu einem passablen Preis in die Haende fiel… und arbeitete mich dann so ueber die Lineups weiter, wie man das im Jazz macht… ich hab auch dutzende Jazzbuecher aus der Koelner Stadtbuecherei gelesen… ab irgendwann hatte mein Vater eine Emailadresse, und ich bat ihn, mir die Miles Davis Mailing List zu abonnieren… War auf Englisch, aber dadurch, dass ich die Tag fuer Tag gruendlich studiert hab, war mein Englisch gegen Ende der neunten Klasse eigentlich schon ganz passabel (bzw irreparabel gepraegt)… Jack Kerouac hab ich damals auch rauf und runter gelesen, so wie viele 16 jaehrige vor und nach mir, und die Musik der Kerouac Romane, hat noch immer einen besonderen Stellenwert fuer mich, Tony Fruscella, Zoot Sims, Brew Moore, Allen Eager…

Die CD Laeden waren wichtige Orte, es war noch die grosse Zeit von Zweitausendeins, und die Buchhandlung Gonski in Koeln hatte eine lange Reihe mit CD-Playern, auf der man stundenlang in alles reinhoeren konnte. (Ich glaub, das begann als Koelner Filiale von imernsts Laden, aber die Phase hab ich verpasst.) Radiosendungen waren auch extrem wichtig, Ruesenberg und Lippgaus im Wechsel am Dienstag, Karsten Muetzelfeld mit Mainstream Jazz (sowas wie das neue Conrad Herwig Album) am Mittwoch, die Konzerte der WDR Big Band mit Gaesten am Freitag, alles immer von 22:35 bis Mitternacht, hab ich selten verpasst… die Liveuebertragungen aus Moers waren auch wichtig… 1998 war ich vier Monate Austauschschueler in San Diego und hab das auch als Chance gesehen, mein Jazzhorizont zu erweitern, ich war beim Abschlusskonzert von George Lewis‘ Kurs in UCSD, und besuchte samstags den Workshop, den Daniel Jackson, legendaerer Saxophonist von Lenny McBrowne’s Four Souls, dort in einem Kulturzentrum fuer jeden anbot, der sich traute mitzumachen… (ich bin ja immer noch beeindruckt, dass ich den ueberhaupt gefunden hab… ich hab damals eine Email an die Stan Kenton Mailing List geschrieben und nach Tipps gefragt…)

Damals dachte ich, es sei Teil meiner Aufgabe als Jazzfan, mich auch mit der aktuellen Musik auseinanderzusetzen, und so fing ich an Jazz Thing zu lesen, und die Neuerscheinungen zu verfolgen… am Ende kaufte ich aber dann doch meisten die alten Sachen – warum soll man sich die hochgepriesene neue Till Broenner CD kaufen, wenn man fuer den halben Preis ein Miles Davis Album kriegt, das tendentiell sogar noch besser ist? Als ich 2006 wieder mit Jazz anfing, hab ich neuere Entwicklungen dann zunaechst bewusst ausgeklammert… Aber als Schueler dachte ich noch, die Gegenwart gehoert logischerweise dazu… Dabei ist die Geschichte doch so viel reicher an toller Musik als die Gegenwart, das ist schon wegen den zeitlichen Verhaeltnissen logisch… Einer meiner besten Freunde damals wollte Jazzmusiker werden, bei dem lief natuerlich aktueller Jazz, vor allem ECM, an die Peter Erskine Trios mit John Taylor kann ich mich erinnern, The Melody at Night with You… Und vielem hab ich schon damals gefremdelt, Kenny Garrett, Joshua Redman, James Carter kannte ich aus dem Radio und das sprach mich nicht besonders an… die grosse Zeit der Young Lions hab ich knapp verpasst… Demnaechst wollt ich mal ein paar dieser Marsalis Alben auf meine durch 25-30 Jahre Jazz hoeren gestaehlten Ohren niederprasseln lassen… aber jetzt noch nicht ;)

Aktuelle Alben, die ich damals gehoert hab, das sind letztlich nicht so viele, meist musste schon aus Kostengruenden ein Album pro Kuenstler reichen… bei Miles Davis, John Coltrane, Horace Silver, Charles Mingus, Charlie Parker, hatte ich schon damals mehrere CDs…

Bill Evans – Push (hatten wir damals live gehoert, ein Freund hat mir Kassetten von Push Live in Europe und Escape gemacht, das lief alles viel, ist nicht so gut gealtert)
Steve Coleman – A Tale of Three Cities (bei Evans fand ich Rapper super, hier war mir das zuviel Gerede und zu wenig Musik)
Jan Garbarek – Visible Worlds (lief rauf und runter, haben wir teilweise auch nachgespielt)
Pharoah Sanders – Message from Home (die auch)
Michael Brecker – Tales from the Hudson (die war wichtig)
Bob Belden plays Sting
Hal Willner’s Weird Nightmare
Holly Cole – It happened one night (redet kein Mensch mehr von, ich her die noch manchmal, vor allem die Tom Waits Covers)
Cassandra Wilson – New Moon Daughter (ich fands teilweise gut, fand aber immer schon, dass Jazzgesang mehr was fuer aeltere Herren ist)
Bernard Purdie – Soul to Jazz
John Abercrombie – Open Land (ein Geschenk, schlug nie ein)
Dave Holland – Not for Nothin (same)
Kenny Wheeler – Angel Song (die schlug ein)
Ernie Watts – Unity (mit Geri Allen, Jack deJohnette… die bekam ich irgendwo umsonst und hab sie nie viel gehoert)
Brad Mehldau – Songs. Art of the Trio Vol 3 (die war wichtig)
David Torn – What means solid, traveller? (die Sorte Album, die einem Ruesenberg schmackhaft machte…)
Charlie Mariano – Sketches of Bangalore (mit der WDR Big Band, etwas zu spaet, da war ich im Oktober 2000 beim Konzert in der Philharmonie gewesen)
David Murray – Creole (Jahre spaeter hab ich begriffen, dass man auch Teofilo Chantre Alben hoeren kann, wenn einem vor allem die Gesangsstuecke gefallen)
Uri Caine – Urlicht / Primal Light (gefiel mir super, ich fand Mahler auch so gut)
John Zorn – Filmworks III (fand ich toll, leider reichte das Budget nicht fuer mehr Zorn)
Don Byron plays the Music of Mickey Katz (Klezmatics fand ich auch gut)
Great Jewish Music: Serge Gainsbourg (meine Tzadik CD, die lief extrem viel)
Ned Rothenberg Double Band – Real and Imagined Time (hatte ich im Radio aus Moers gehoert)
Louis Sclavis – Danses et autres scenes (komische Wahl fuers einzige Sclavis Album, inzwischen hab ich ein paar mehr)

Konzerte waren schon auch wichtig damals, anfangs im Stadtgarten, spaeter hab ich das Loft entdeckt, was ein grosser Schritt war, die Preise waren besser und als 18jaehriger im Loft fuehlte man sich doch sehr viel weniger deplatziert als als 15jaehriger im Stadtgarten… Im Stadtgarten hab ich Don Byron mit Uri Caine gesehen, mein erstes Jazzkonzert, Vistor Bailey mit Kenny Garrett, Bill Evans (den Saxophonisten), Dewey Redman mit Rita Marcotuli, Cameron Brown und Matt Wilson, Nicolas Simion (das war der Hammer, ein Quartett mit Paul Shigihara (g), Martin Gjakonowski (b), Ramesh Shotam (perc), ein Jammer, dass es kein Album in der Besetzung gab), Peter Broetzmann, und einige mehr… im legendaeren Subway bin ich einmal gewesen, Alan Skidmore, aus dem Loft erinner ich erstaunlich wenig, Frank Gratkowski trat oft auf, Simon Nabatov, Matthias Schubert, Nils Wogram, Hayden Chisholm konnt man regelmaessig hoeren, Dave Douglas und Ellery Eskelin hab ich mehrfach gehoert, ein Highlight war Tim Berne mit Marc Ribot und Baikida Carroll… es gab ein tolles Soloset von John Taylor im Rahmen der Triennale, Nicolas Simion hab ich noch oefter gesehen, Claudio Puntin, Marc Charig war mal dort… ab irgendwanngab es dort auch eine Serie mit Mainstream Jazz, das Martin Sasse Trio fand ich immer prima, die waren so die Basisrhythmusgruppe fuer die Art Musik in Koeln… Lee Konitz konnte man oefter hoeren, der wohnte ja damals genau wie Charlie Mariano bei uns… in der Tonhalle in Duesseldorf gab es Cassandra Wilson, das war ein komisches Konzert aber nicht schlecht… Moers haben wir uns 1999-2001 jeweils einen Tag geleistet, David Murray gab es dort, Louis Sclavis, ein Robert Wyatt Tribute Projekt (Canterbury Fan war ich schon ganz zu Anfang, mein Vater hatte unter seinen sieben Schallplatten zwei von Soft Machine, er sagte, das sei eine niederlaendische Band – er hatte auch nicht immer Recht… Karl Lippegaus hat damals tolle Sendungen zu Wyatt gemacht)

So, laengster Post in Ewigkeiten – von sich selbst sprechen ist ja recht einfach… Demnaechst folgt hoffentlich noch was zu den 90ern Alben, die ich heutzutage gut find… Kikuchi, Weston, vieles vom besten hab ich damals verpasst, oder nicht verfolgt, an Tethered Moon im Radio kann ich mich schon erinnern…

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