Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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Wollte ja längst auch wieder was schreiben … aber der Abstand wird langsam etwas gross. Zwei Opernbesuche sind noch nachzumelden:



Giochino Rossini: L’Italiana in Algeri – Zürich, Opernhaus – 17.3.

Musikalische Leitung: Gianluca Capuano | Inszenierung: Moshe Leiser, Patrice Caurier | Bühnenbild: Christian Fenouillat | Kostüme Agostino Cavalca | Lichtgestaltung: Christophe Forey | Video: Étienne Guiol | Choreinstudierung Ernst Raffelsberger | Dramaturgie: Kathrin Brunner, Christian Arseni

Isabella: Cecilia Bartoli
Mustafà: Pietro Spagnoli
Lindoro: Lawrence Brownlee
Taddeo: Nicola Alaimo
Haly: Ilya Altukhov
Elvira: Rebeca Olvera
Zulma: Siena Licht Miller

Orchestra La Scintilla (Hammerklavier: Enrico Maria Cacciari)
Chor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich

Das war, wie ich schon erwähnte, die Übernahme einer Produktion aus Salzburg (dort an Pfingsten 2018 aufgeführt). Mit etwas Abstand ist die Albernheit, die ich konstatiert hatte, ein wenig in den Hintergrund getreten. Es mag eine Beschönigung aus der Sicherheit des Privilegierten sein, aber die auch in einer Rezension zu lesende Behauptung, dass die Komödie gerade vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund eine Unbedingtheit erreichte, dass das ganze Ensemble (auch der Chor und die Statisten beim Spaghetti-Essen) wie elektrisiert agierte – das ist schon sehr zutreffend. Es glänzten also nicht nur Bartoli und Brownlee (vor vier Jahren sang er hier neben Bartoli die Titelrolle in „Le Comte Ory“ und das Gespann war schon da sagenhaft gut – leider hatte ich darüber soweit ich sehen kann nichts geschrieben) und Spagnoli (er war die zweite Besetzung, die ersten paar Aufführungen sang Ildar Abdrazakov, auch Bartoli und Brownlee sangen nicht alle Aufführungen). Das war eine herausragende Ensemble-Leistung, in der auf der Bühne alles passte. Und im Graben hatte Gianluca Capuano alles im Griff (er dirigierte die – soweit ich weiss letzte von diversen Zürcher – Wiederaufnahmen der altgedienten Cenerentola mit Bartoli in der Saison 2019/20 und auch das umwerfende Konzert in der Tonhalle mit Bartoli und Franco Fagioli von letztem November).

Fotos: Monika Rittershaus / (c) Opernhaus Zürich (auf dem ersten Foto Spagnoli/Bartoli, auf dem zweiten Brownlee, auf dem dritten die Azzurri beim Spaghettiplausch)



L’Olimpiade – Arien von Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736) mit einem Dokumentarfilm von David Marton und Sonja Aufderklamm – Zürich, Opernhaus – 13.3.

Musikalische Leitung: Ottavio Dantone | Regie / Schnitt: David Marton | Kamera / Schnitt: Sonja Aufderklamm | Bühnenbild: Christian Friedländer | Kostüme: Tabea Braun | Lichtgestaltung: Henning Streck | Dramaturgie: Claus Spahn

Clisten: eCarlo Allemano
Aristea: Joélle Harvey
Argene: Lauren Snouffer
Licida: Anna Bonitatibus
Megacle: Vivica Genaux
Aminta: Thomas Erlank
Alcandro: Delphine Galou

Die Mitwirkenden des Dokumentarfilms: Margrith Alpiger, Flavio Corazza, Katharina und Ervin Hardy, Erika Kunz, Esther Kunz, Berti Meier, Karen Roth, Hanni und Heinz Rüedi, Rolf Wendel

Orchestra La Scintilla

Dazu hatte ich ein paar Zeilen mehr geschrieben … Sonntagnachmittag – einer der ersten mit wunderbarem Frühlingswetter, der grosse offene Platz vor dem Opernhaus war voll mit Menschen, im Haus leider halbleere Rängen. Die Aufführung war enorm berührend. David Marton (Regie) und Sonja Aufderklamm (Kamera) drehten gemeinsam einen Dokumentarfilm in einem Altersheim im Umland von Zürich und verwoben bewegte Bilder mit Arien aus „L’Olimpiade“ von Pergolesi. Von der für Herbst 2020 geplanten Oper, die – nachdem noch die Generalprobe abgehalten wurde – dem zweiten (Veranstaltungs-)Lockdown zum Opfer fiel, blieb fast nichts übrig: Am Ende gab es einen Bühnenbild-Hintergrund, und da wurden dann auch ein paar Figuren vor der Renaissance-Landschaft auf dem Gemälde drapiert. Anderswo gegen Ende sassen die Sänger*innen in Kinostühlen vor einer Leinwand, auf der dann – auf der Bühne, statt wie bis dahin den gesamten Bühnenhintergrund füllend – die Filmaufnahmen zu sehen waren. Hatten die Sänger*innen bis dahin vor den Bildern agiert, gucken sie nun selbst auf sie – und erhoben sich für eine nächste Arie.

Im Gespräch äusserte sich Marton zum Konzept der völlig umgestalteten Aufführung. Er hatte, in Budapest in der Isolation sitzend, keine Lust, „alte Inszenierungskonzepte unter strengen Corona-Einschränkungen irgendwie halbgut umzusetzen. Meine Strategie war eher: Lass alle ursprünglichen Pläne fahren und schaue, was passiert. Vielleicht entstehen ja aus dieser Null-Situation neue Ideen, denen ich zu einem anderen Zeitpunkt gar nicht folgen würde.“ Er begann also, im Netz gefundene Bilder mit Musik von Pergolesi zu montieren (auch welche aus Filmen von Ingmar Bergmann … passend dazu gab’s übrigens in der „Italiana“ eine Szene, in der die berühmte Brunnenszene aus „La dolce vita“ im Hintergrund lief), und daraus wuchs der neue Plan:

Die Experimente haben dich auf den Gedanken gebracht, die Pergolesi- Oper als Filmprojekt zu realisieren, da szenische Proben nur mit Abstand und Maske möglich waren.

Den Impuls, szenische Aktion durch Film zu ersetzen, hatten gerade im Schauspielbereich in der damaligen Corona-Situation ja viele. Mir ging es allerdings sehr konkret um die Wechselwirkungen von Bildern und Musik. Dieses Thema treibt mich schon seit Beginn meiner Theaterlaufbahn um: Dass man über die Verwendung von Musik nicht nur im Sinne von Narration nachdenkt. Dass man Bildfolgen und Szenen ähnlich rhythmisieren kann wie Musik. Dass Musik in der Oper nicht immer eine Geschichte transportieren muss, sondern Bilder und Musik auf einer anderen Ebene zusammenkommen und diese sich gegenseitig bespiegeln.

Als du das Opernhaus dann mit dem Wunsch konfrontiert hast, einen Dokumentarfilm über alte Menschen zu drehen und den mit den Pergolesi- Arien zu verbinden, waren wir sehr überrascht, denn der Inhalt der Oper und die alten Menschen haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Ausserdem waren die Altersheime im Sommer und Herbst 2020, als du drehen wolltest, wegen der Infektionsgefahr noch streng abgeschottet.

Ich wollte, dass das Projekt etwas mit der Zeit zu tun hat, in der wir uns befinden. Und die Situation der alten Menschen während der Pandemie hat mich sehr beschäftigt: Wie verletzlich sie sind, wie sie von ihren Angehörigen zwangsweise getrennt wurden, obwohl ihr Leben ja auch schon ohne Corona von grosser Einsamkeit geprägt war. Ich dachte: Ältere Menschen bilden einen wesentlichen Teil des Opern-Publikums, die wegen Corona nun nicht mehr ins Theater gehen können. Wie wäre es daher, wenn wir zu ihnen gingen, ihnen Musik vorspielten und zuhören würden? So ist die Idee entstanden, einen Dokumentarfilm über alte Menschen zu drehen. Ich habe dann spontan die österreichische Filmemacherin und Kamerafrau Sonja Aufderklamm als Partnerin für das Projekt gewinnen können, gemeinsam haben wir den Film dann realisiert. Sonja war genau die richtige für das Vorhaben. Sie hat einen künstlerischen Blick für die Komposition von Filmbildern und ein sensibles Auge für Menschen. Im Sommer, als grenzüberschreitende Reisen wieder möglich waren, sind wir nach Zürich gekommen, haben tatsächlich alte Menschen getroffen, mit ihnen geredet und drei Wochen lang gedreht. Es war ein grosser Glücksfall, dass uns trotz der strengen Schutzmassnahmen die Türen geöffnet wurden – von einem Altersheim in Rümlang in der Nähe des Zürcher Flughafens, aber auch von anderen alten Menschen, die uns in ihre Wohnungen und in ihr Leben gelassen haben.

(Quelle: https://www.opernhaus.ch/spielplan/kalendarium/lolimpiade/2021-2022/ / 2022-03-27, auch im Programmheft und der aktuellen Ausgabe des „Opernhaus Mag“ zu lesen)

Dass dann unter den elf unterschiedlich betagten Menschen eine Geigerin war, die als Kind KZ und Todesmarsch überlebte, dass eine lebensfrohe Niederländerin, die sich schön macht und zum Flughafen spaziert, um dort in Kaffees zu sitzen, weil sie immer noch auf den Richtigen hofft, unvermittelt davon erzählt, wie ihr Vater sie in ihrer Kindheit missbraucht hatte, das verstärkt nur die Wirkung des Konzepts, das auch ohne solche „Hämmer“ schon sehr stark gewesen wäre – aber das gehört halt zum Leben der portraitierten Menschen mit dazu. Eine andere Frau hat noch ihre Violine bei sich, packt sie aus, stimmt sie mühsam – kann sie dann aber nicht mehr in Spielposition halten – stattdessen übernimmt in dem Moment, als ihre Musik eben nicht mehr erklingen kann, das Orchester für die nächste Arie. Einen Handlungsbogen aus der Oper gab es dabei nicht, die Arien taten aber auch so genau ihren Zweck, nämlich Gefühle evozieren. Und statt Rezitativen, die die Handlung vorantrieben, gab es dann eben die Aussagen der alten Menschen, aus denen dann zusammen mit der Musik eine neue Geschichten entstanden ist.

Am Fazit hat sich hier mit dem Abstand nichts geändert: die Musik – so unfassbar schön sie auch ist, wurde von den Bildern und den Gesprächs-Szenen (Marton selbst bleibt in diesen unsichtbar) fast erschlagen, spielt manchmal buchstäblich die zweite Geige. Das hielt die grossartigen Sängerinnen und Sänger – allen voran Vivica Genaux und Anna Bonitatibus – allerdings keine Sekunde ab, ihr Bestes zu geben. Und das war sehr viel. Die Frage, ob die Bilder nicht durch die Musik noch um ein Vielfaches berührender wirkten, lässt sich nicht klären, ist dann aber auch müssig (obwohl die Antwort mein Fazit vom Kopf auf die Beine – oder umgekehrt – stellen könnte). Mit Ottavio Dantone am Pult von La Sctintilla – dem Originalklang-Ensemble des Opernhauses, das auch bei der Italiana im Graben sass – war auch hier für eine hervorragende musikalische Umsetzung gesorgt.

Fotos: Herwig Prammer / (c) Opernhaus Zürich

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