Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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jackofh

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Falls sich außer mir noch jemand auf die Berlinale traut: ein paar Empfehlungen/Warnungen.

***1/2 Viens je t’emmène (Alain Guiraudie, Panorama)
Ein Film zum Zustand der Nation vor dem Hintergrund eines terroristischen Anschlags in der Provinz. Hierzulande wäre daraus ein hyperrealistischer, sozialkritischer Problemfilm mit politisch-korrekter Botschaft und ganz viel Sendungsbewusstsein geworden. In Alain Guiraudies Kosmos wird aus diesem Stoff eine für sein Kino typische Burleske, die die Personen und ihre Verhältnisse zueinander solange neu (und zunehmend absurder) anordnet, bis alle vermeintlichen Gewissheiten flöten gegangen sind. Für mich zündete nicht jeder Gag und die ein oder andere Volte war mir diesmal auch zu viel. Dennoch habe ich dem bunten Treiben gerne zugesehen. Vögeln für den Weltfrieden – darauf würde ein deutscher Regisseur niemals kommen!

**** La edad media (Alejo Moguillansky & Luciana Acuña, Forum)
Weitermachen im Lockdown oder: Warten auf Moto. Herrlich überdrehte, anspielungsreiche Groteske über die Notwendigkeit der Kunst in Zeiten der Pandemie. Dabei ein Familienfilm im besseren Sinne: Denn das Private ist hier poetisch. Die eigenen vier Wände des Regisseur-Ehepaars werden zum Filmset – und Tochter Cleo zur Hauptfigur und Erzählerin. Auf der Tonspur gibt‘s eine schöne Tom-Waits-Interpretation. Hold On!

***** Akyn (Darezhan Omirbayev, Forum)
Ähnliches Thema, andere Herangehensweise: „Poet“ trägt sein Thema schon im Titel. Ein junger Dichter fragt sich, welche Rolle er in der Gesellschaft noch spielt, ergo: welchen Wert der Poesie in ihr beigemessen wird. Omirbayev hat dazu eine klare Haltung. Doch er ist ein viel zu guter Filmemacher, als dass er hier einen plumpen Abgesang anstimmen würde. Er bevormundet den Zuschauer nicht, sondern nimmt ihn zusammen mit seiner Hauptfigur mit auf eine Reise, die u.a. in einer klug eingeflochtenen Binnenerzählung mit der Geschichte des kasachischen Nationaldichters Makhambet Otemisuly verknüpft wird. In diesem durch und durch beglückenden, aus der Zeit gefallenen Film ist jede Einstellung ein kleines Kunstwerk.

** Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien (Constantin Wulff, Forum)
Vielleicht gibt es neben dem Social-Media-Spot auch eine Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Arbeiterkammer Wien. Daraus wäre sicherlich mehr über diese interessante Institution zu erfahren als aus Constantin Wulffs Dokumentation. Ohne eine erkennbare filmische Idee ist „Für die Vielen“ mit seinen zwei Stunden Spielzeit dann doch locker 90 Minuten zu lang geraten.

**** Occhiali neri (Dario Argento, Special)
Treibende Elektrobeats in Dauerschleife, rote Lippen und malträtierte Kehlen in Großaufnahme. Und die Treue einer deutschen Schäferhündin. Der Altmeister serviert einen Giallo mit viel Tempo, bewussten Unschärfen und einem guten Schuss Selbstironie. Kurzum: ein großer Spaß!

****1/2 Die leere Mitte (Hito Steyerl, Forum Special Fiktionsbescheinigung)
Hierzu verweise ich gerne auf den Essay von Mark Terkessidis. Die Reihe „Fiktionsbescheinigung“ ist auf jeden Fall ein absoluter Gewinn für das Forum, da werde ich noch mehr gucken.

*1/2 Stay Awake (Jamie Sisley, Generation)
Hier bin ich nur zufällig reingeraten, weil ich meinen eigentlichen Film verpasst habe. Jamie Sisley inszeniert die eigene Jugend mit der medikamentenabhängigen Mutter. Ein „Requiem For A Dream“ habe ich natürlich nicht erwartet. Eine solide erzählte Geschichte eigentlich aber schon. Persönliche Betroffenheit allein macht eben noch lange keinen überzeugenden Film. Einziges Highlight: Courtney Marie Andrews im Soundtrack.

*** An Cailín Ciúin (Colm Bairéad, Generation)
Hübsch fotografierter, aber wenig nuancenreicher, genretypischer Tränenzieher.

**** Coma (Bertrand Bonello, Encounters)
Eine ebenso faszinierende wie verstörende Zumutung von einem Essayfilm (es geht um die Ängste von Bonellos 18-jähriger Tochter im Lockdown). Für Deleuze-Kenner*innen sicherlich ein Fest. Für weniger theoriefeste Zuschauer*innen bei einmaliger Sichtung zumindest eine sehr schöne Überforderung.

**** Dreaming Walls (Amélie van Elmbt & Maya Duverdier, Panorama)
Über den Mythos Chelsea Hotel ist alles gesagt, geschrieben und gezeigt. Und dennoch lohnt Amélie van Elmbts und Maya Duverdiers Beschwörung des genius loci: für aktuelle Innenansichten der endlosen Renovierungsarbeiten und Einsichten der letzten verbliebenen Bewohner*innen.

Außerdem bereits gesehen:

****1/2 Beirut al lika (Borhane Alaouié, Forum Special)
***1/2 Une fleur à la bouche (Éric Baudelaire, Forum)
***1/2 Kind Hearts (Gerard-Jan Claes & Olivia Rochette, Generation)
*** Merry Christmas Deutschland oder Vorlesung zur Geschichtstheorie II (Raoul Peck, Forum Special Fiktionsbescheinigung)

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