Antwort auf: Archie Shepp

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vorgarten

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störrischer mainstream – archie shepp 1990-2021

kurze zusammenfassung dessen, was ich gerade mühsam aus dem hörfaden wieder herausgefiltert habe. shepps stimme seit den 1990ern, die von der mühsal des ansatzes, der abgehangenheit des draufgeschafften materials, dem eros der vermittlung, einem müden sinn für entertainment und – man muss das wohl sagen – wenigen musikalischen herausforderungen geprägt ist, hat sich auf hohem standard bis heute gehalten. den uni-job hat er bis 2002, in den ferien ist nach wie vor platz für europa-tourneen (nie woanders hin, südamerika, japan: fehlanzeige) im quartett, seinem bevorzugten format, erfolgreicher sind aber seine duo-aufnahmen mit pianisten (nochmal parlan, dann endlich waldron, auf dem eigenen label dann mit kessler, kühn und moran).

quartett

mit seinem schulfreund (glaube ich) wayne dockery (b) und dem amherst-schüler und expat in paris stephen mccraven (dm) baut sich shepp anfang der 1990er endlich ein festes working quartet zusammen, das ihn auf tour begleitet, aber in seiner langlebigsten version (mit tom mcclung am klavier) erst 2007 aufgenommen wird (GEMINI). die pianisten wechseln, erst ist horace parlan noch dabei, mit dem noch drei alben in europa entstehen (I DIDN’T KNOW ABOUT YOU, SWING LOW im duo, BLACK BALLADS wieder im quartett), bevor kurz richard clements übernimmt, danach ist der amherst-schüler mcclung fest an bord (leider nur bis zu seinem frühen tod 2017). so richtig herausfordernd sind sie alle für shepp nicht, das programm hat sich nicht groß verändert, hin und wieder kommen neue, schöne, kompositionen von ihm dazu („hope two“). als audience pleaser kommen einfache, geriffte blues-stücke zum einsatz, mit vokaleinsatz des leaders, der ohnehin nicht mehr aus der musik wegzudenken ist und geschmackssache bleibt – höhepunkt des dahingehenden selbstbewusstseins ist das gesangsalbum SOMETHING TO LIVE FOR (timelss 1996), das allerdings durch die super begleitung (hicks, mraz, muhammad, als gast eddie henderson) sehr viel spaß macht.

wichtigster und schönster output in den 1990ern sind vier audiophil aufgenommene alben für das japanische venus-label (BLUE BALLADS 1995, TRUE BALLADS 1997, TRUE BLUE 1998, DEJA VU 2001), die eine erstaunliche sophistication und tiefe dokumentieren. tin pan alley songs & französische chansons, mal gesungen, mal nicht, mit john hicks, george mraz und idris muhammad, am ende übernehmen billy drummond und harold mabern. hier wird das erbe wirklich neu betrachtet, auch, wenn der balladenfokus ein bisschen arg zähmend daherkommt (und wahrscheinlich vom produzenten vorgegeben war).

battles

heißere aufnahmen von shepp gibt es auch, und seine tenorsax-stimme darf sich als große individuelle kulturleistung an kollegen messen. mit yusef lateef entsteht eine intensive und tatsächlich kollegiale zusammenarbeit auf lateefs eigenem label (TENORS OF…, 1992), für das von joe chambers arrangierte SAX LEGENDS projekt des japanischen king-labels misst sich shepp mit david murray und john zorn, ende der 90er unterhält er sich mit ari brown in der band von kahil el’zabar (CONVERSATIONS, 1999), auf LIVE IN NEW YORK gibt es ein launiges wiedersehen mit roswell rudd, grachan moncur III, reggie workman und andrew cyrille (2000), das österreichische pao-label erwischt shepp im trio mit richard davis und sunny murray (plus percussionist leopoldo fleming, ST. LOUIS BLUES, 1997). kein battle, sondern tiefes verständnis und eine gemeinsame verbeugung vor billie holiday dokumentiert die zusammenarbeit mit mal waldron, kurz vor dessen tod, mit dem shepp oft gespielt, aber sehr selten aufgenommen hatte: LEFT ALONE REVISITED für enja wird am ende von shepps musiker&lehrer-berufslaufbahn einer seiner größen erfolge.

professor emeritus

der ruhestand fängt vielversprechend an. shepp präsentierte 2003 ein neues heißes quartett, mit cameron brown und ronnie burrage, sowie der adäquat störrischen und freigeistigen amina claudine myers, sie laden sein „mama rose“ und ihr „call him“ mit neuer dringlichkeit auf, shepp schreibt einen schönen quasi-standard, das titelstück von TOMORROW WILL BE ANOTHER DAY, aber das quartett ist schnell geschichte. shepp zieht endgültig nach paris und versucht sich mit seiner partnerin an einem eigenen label (archieball), das vor allem live-aufnahmen herausbringt. das working quartett kommt zu seinem recht (GEMINI, 2007), siegfried kessler darf shepp noch einmal (vor seinem tod) in surrealistische klangwelten entführen (FIRST TAKE, 2005), es gibt ein wiedertreffen mit musiker*innen aus marokko (KINDRED SPIRITS, 2005) und eine neuauflage des attica blues orchesters (I HEAR THE SOUND, 2013). shepp ertränkt diese musikalischen bildungsprogramme manchmal mit conférencier-gesten, die noch nicht mit ihm in rente gegangen sind. ansonsten lässt er sich zu diversen projekten einladen, vor allem in frankreich, die ein bisschen knarzende revoluzzer-authentizität gebrauchen können, spielt aber auch zwei beachtliche no-bullshit-duos mit pianisten ein, die ihn virtuos und verletztlich zugleich zeigen: WO!MAN mit joachim kühn (2011) und LET MY PEOPLE GO (2021) mit jason moran, mit dem er in den letzten jahren immer wieder auftritt: zwei verschiedene ansätze des bezugs auf afroamerikanische klassische musik, holiday, monk, ellington & waller, transgenerational.

hip hop

shepp berichtet immer wieder von den erzählungen seiner großmutter über die musik in den sklavenplantagen, ohne instrumente, ohne percussion. der eigene körper sei zur klangerzeugung und resonanz verwendet worden, dazu die zirkulären blues-stücke und „hambone“, das lied, in der jede neue strophe mit einer neuen information aufwartet, die ein aufhören vereitelt. „hambone“ sang bzw. rappte shepp zum ersten mal bei peter gigers family of percussion 1980, die rezitation von „mama rose“ und theatralen angry-young-man-texten entwickelte sich zum blues-gesang und crooning, seit 2007 entdeckte er im rap und hiphop aktualisierungen dieser tradition: chuck d (GEMINI), napoleon maddox (der tatsächlich seine beats aus dem körper holt, PHAT JAM IN MILANO, 2009), schließlich der neffe raw poetic (OCEAN BRIDGES, 2020) spinnen die erzählungen der familie shepp in die gegenwart fort und erneuern den ruf nach veränderung.

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