Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Neue Konzertreihe Zürich – 22. November 2021 – Zürich, Tonhalle

Cecilia Bartoli Mezzosopran
Franco Fagioli Countertenor
Les Musiciens du Prince
Gianluca Capuano
Leitung
Pier Luigi Fabretti Oboe

ANTONIO VIVALDI: Nisi Dominus (RV 608) (FF)
ANTONIO VIVALDI: Domine Deus (aus: Gloria, RV 589) (CB)
GEORG FRIEDRICH HÄNDEL: „What Passion Cannot Music Raise and Quell!“ (aus: Ode for St. Cecilia’s Day, HWV 76)
ALESSANDRO MARCELLO: Konzert d-Moll für Oboe und Streicher (WVZ 799)
GIOVANNI BATTISTA PERGOLESI: Stabat mater (CB & FF)

E1: HÄNDEL: „Lascia la spina“ (CB)
E2: (Eine italienische Cäcilien-Ode) (FF)
E3: JS BACH: Amen (aus: „Tilge, Höchster, meine Sünden“, BWV 1083) (CB & FF)

Was für ein wunderbarer Abend! Das Bühnenfoto oben stammt von vorm Konzert, links stand auch noch eine kleine Orgel, doch das Cembalo erwies sich tatsächlich als wichtiger, denn Luca Quintavalle, der es spielte, improvisierte damit auch ein paar Überleitungen, besonders zwischen den beiden Arien, die Bartoli im zweiten Drittel des Abends sang.

Los ging es mit Franco Fagioli und Vivaldis umwerfendem „Nisi Dominus“ – allein das Programm des Abends versprach ja nicht wenig: vertraute, grossartige Werke, die ich allesamt noch nie im Konzert hören konnte. Fagioli brauche am Anfang einen Moment, seine Stimme dünkte mich etwas flach, doch je länger er sang, desto schöner konnte sie sich entfalten. Da und dort blieb eine kleine Schärfe in der hohen Lage, aber spätestens beim „Cum dederit“ (das Antonini letztes Jahr so wunderbar am Chalumeau eingespielt hat) war es um mich gesschehen.

Dann Bartoli – und der Applaus, der zu ihrer Begrüssung aufbrandete, wäre anderen gut als Schlussapplaus angestanden. Sie gab ja auch vor einem guten Jahr ein grandioses Konzert und es ist unter den Umständen natürlich ganz wunderbar, sie wieder hören zu können. Zürich ist für sie ja nicht nur einen wichtige Karrierestation sondern auch Heimat (oder zumindest die nächstgrösste Stadt von da, wo sie sich niedergelassen hat), und jeder ihrer Auftritte hier wird zu einem besonderen Anlass. Sie sang zwei Arien, die wie gesagt durch eine kurze improvisierte Cembalo-Überleitung verbunden wurden. Danach erklang das mutmasslich erste Solokonzert für Oboe. Besonders schön ist der langsame Mittelsatz, in dem vom Solisten obendrein Zirkuläratmung verlangt wird (ich hab das ja nicht mal am Sax hingekriegt, wie das mit dem Doppelrohrblatt gehen kann, ist mir echt ein Rätsel – also dass man allein mit Stützen, durch die Bauchmuskulatur, beim Einatmen den Druck auf die austretende Luftsäule so hoch halten kann, dass der Ton nicht massiv absackt … ich kann’s mir wirklich kaum vorstellen).

Schon hier war der Abend schlicht ein Fest: Bartoli, das „Nisi Dominus“, die Oboe … doch der Höhepunkt folgte natürlich noch, das grossartige Stabat mater von Pergolesi. Egal wie oft gehört, es bleibt ein faszinierendes, geliebtes Werk, das in so einer schlanken und agilen Präsentation mit unfassbarem Gesang einfach wunderbar war. Wie die beiden ihre Stimmen strahlen liessen, noch im leisesten Pianissimo … wie das kleine Orchester zupackend musizierte, präzis, sehr lebendig – es war schlicht grossartig.

Stehende Ovationen, Blumen aus der ersten Reihe … dann Bartoli mit der ersten Zugabe: „Lascia la spina, cogli la rosa“ (lass den Dorn, pflück die Rose) passte natürlich perfekt. Nochmal gigantischer Applaus, dann war Fagioli dran, der eine Hymne an Cäcilia sang, derweil Cecilia von hinter der Bühne zuguckte. Leider konnte ich nicht herausfinden, woraus seine Zugaben entnommen war. Die gemeinsame, letzte, sagten sie dann an: Pergolesis Stabat mater war so erfolgreich, dass diverse Adaptionen entstanden, u.a. eine von Bach, natürlich über einen deutschen Text. Den Schlusssatz daraus, ebenfalls „Amen“ betitelt, sangen die beiden dann noch gemeinsam – und schon waren zwei Stunden (ohne Pause) vergangen und ich taumelte beglückt hinaus in die kalte Winterdunkelheit.

27. November 2021 – Zürich, Tonhalle

Tonhalle-Orchester Zürich
Monteverdi Choir
Sir John Eliot Gardiner
Leitung
Andrew Staples Tenor (Le récitant)
Ann Hallenberg Mezzosopran (Maria)
Ashley Riches Bariton (Joseph)
William Thomas Bass (Herodes)
Alex Ashworth Bass (Polydorus, le Père de famille)
Gareth Tresedor Tenor (Centurion)

HECTOR BERLIOZ: L’Enfance du Christ, Op. 25 H. 130

Und gestern wieder in die Tonhalle – ob’s schon wieder das letzte Mal war, wird sich weisen. Auch das zweite Referendum gegen das Covid-Gesetzt scheint heute deutlich zu scheitern, ob deswegen wieder mehr Massnahmen ergriffen werden, ist offen – nötig wäre es, allerdings würde ich beim Homeoffice und der Gastronomie ansetzen und nicht bei Veranstaltungen, die mit Masken durchgeführt werden können – aber dass die Gastronomie nochmal zum schliessen gezwungen wird, kann ich mir kaum vorstellen, daher wären Veranstaltungen ein gutes Ablenkungsmanöver, um Handlungsfähigkeit zu beweisen … bleibt nichts als abwarten, andernfalls steht am 11. Dezember Argerich/Dutoit an und Ende Dezember die „Anna Bolena“ mit Diana Damrau, die gestern Abend Première feierte.

Nun, gestern ging es also zu Berlioz – ich fand die Aussicht toll, Gardiner einmal mehr mit einem (in diesem Fall selten zu hörenden) geistlichen Werk in der Tonhalle zu hören, nach seinem Einstand beim Tonhalle-Orchester mit der Missa Glagolitica von Janácek (u.a. mit Luba Orgonásová – damals traute ich mich leider noch nicht, darüber zu schreiben) und danach dem Requiem von Verdi in der Tonhalle-Maag (beide mit dem Tonhalle Orchester und seinem Monteverdi Choir, dazwischen kam er auch noch mit dem Orchestre révolutionnaire et romantique und Kristian Bezuidenhout, ebenfalls noch vor der Renovation in der alten Tonhalle, auch das war toll).

Gestern lud ich auch meine Mutter ein, ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk sozusagen. So theatralisch wie in Luzern die Matthäuspassion oder später die konzertante Aufführung von Monteverdis „L’Orfeo“ ging es gestern nicht zu und her, aber Staples, der mit seinem wunderbar beweglichen und warmen Tenor als Erzähler agierte, stand nicht immer vor dem Orchester sondern auch mal zwischen Orchester und Chor, Treseder hatte seinen kurzen Auftritt als Centurio in der opernhaften Szene hinten im Chor mit Ashworth, der später als Familienvater noch vorn kam. Thomas als Herodes – ein relativ kurzer aber sehr einprägsamer Auftritt – und Hallenberg/Riches als Maria und Joseph blieben vorn und gingen seitlich ab, wenn sie nichts zu tun hatten. Für das Trio aus zwei Flöten und Harfe im dritten Teil setzte sich dann auch Gardiner zu den Solist*innen. Und Chor der Engel hatte seine Einsätze in der linken Galerie, von unten nur zu hören, nicht zu sehen. Der Chor war überhaupt einmal mehr beeindruckend gut. Dass seine Mitglieder auch rasch einen solistischen Auftritt hinlegen können, wissen wir ja schon seit den Bach-Kantaten, aber im Konzert ist das dann halt doch nochmal eindrücklicher zu erleben.

Am meisten beeindruckt, verwundert, amüsiert und ja: am Ende auch überzeugt, hat mich jedoch die Musik von Berlioz selbst, den ich noch viel zu schlecht kenne. Das Werk bewegt sich zwischen Oratorium und Oper, zwischen Parodie und tiefer Empfindung. Das Libretto hat Berlioz selbst auf Basis von Texten aus dem Neuen Testament geschrieben – und ein paar Szenen, v.a. die dritte in Ägypten, frei dazu erfunden. Die erwähnte Szene mit dem Centurio und Polydorus, aber auch viele Passagen des dritten Teiles wirken sehr opernhaft, stellenweise von grosser Dramatik. Doch wenn der Erzähler am Ende vom Chronist selbst zum Gläubigen wird, nimmt man das der Musik halt doch ab. Der Engelschor trägt dazu das seine bei – bei Gardiner waren es sechs Sopranistinnen, die ihren ersten Auftritt relativ spät aus dem Off hatten (im ersten Teil standen nur die Männer auf der Bühne, bis dahin braucht es nur ihre Stimmen als Chor der Wahrsager), und danach noch ein paar Mal die Bühne verliessen – praktischerweise kann der Balkon (wie auf dem Foto oben zu sehen) von der Bühne direkt erreicht werden). Dass am Ende fast zwei Stunden vergangen waren, hat mich sehr überrascht – die einzige Länge hörte ich im Trio für zwei Flöten und Harfe, das mir etwas repetitiv und gar einfach gestrickt schien … in der grossen französischen Oper wäre das wohl der Teil für das Ballet gewesen, aber das wird sich Berlioz in einem geistlichen Oratorium ja nicht auch noch gewagt haben?

Gardiner selbst nahm ich, obwohl er direkt vor mir stand (vermutlich pandemiebedingt war die erste Reihe aber ca. drei oder vier Meter von der Bühnenkante entfernt), kaum wahr. Die Musik schien über die ganze Länge vollkommen natürlich zu fliessen – womit ja eigentlich alles gesagt ist, was seine Leistung angeht. Das einzige, was mir nicht ganz optimal schien, war stellenweise der Orchesterklang. Seit Juni 2020 oder so (zwei Kurzkonzerte mit Paavo Järvi in der Tonhalle-Maag) hatte ich das Tonhalle-Orchester nicht mehr gehört, und der Weg zurück in den akustisch neu zu erfühlenden und zu erlernenden Tonhalle-Saal ist wohl nicht ganz abgeschlossen (auch wenn ich von anderswo allerbestes gehört habe über die Leistungen des Orchesters in der aktuellen Saison). Es war weder die Präzision noch das Zusammenspiel, eher Dinge wie Klangschönheit oder -volumen, Klangfarben und (gefühlte/wahrgenommene) Innigkeit – in der Hinsicht schien mir noch nicht wieder alles perfekt zu laufen. Nichtsdestotrotz: zwei der schönsten Konzerte der neuen Saison (und damit auch des Jahres) in einer Woche, nachdem ich schon in Lugano drei wunderbare Konzertabende gehört hatte, und zwischen diesen zwei in der Tonhalle auch noch mein erstes Jazzkonzert seit März 2020 – fast absurd, so etwas mitten in einer Pandemie erleben zu dürfen. Aber ich bin glücklich darüber und es tut wahrlich gut in diesen sonst ja oftmals düsteren Zeiten.

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