Antwort auf: mini-blindfoldtest #1 (redbeansandrice)

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redbeansandrice

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Jay Migliori – Yellow Tango

Ich hoer zur Zeit im Badezimmer immer „Maenner mit schoenen Haaren“ von DLDGG (link) und da muss ich oft an Migliori denken, ein gepflegter Herr in den besten Jahren, keine gescheiterte Existenz. Das Stueck ist von dem Album The Courage, das 1982 auf Discovery erschien und 1980/81 in Los Angeles aufgenommen wurde. Der Grossteil der Besetzung hat West Coast Jazz Credits bis in die 50er, Conte Candoli (tp), Migliori (ts), Jim Crutcher (b), Chiz Harris (dr). Crutcher/Harris waren zB Anfang der 60er bei Onzy Matthews und sind auf ein paar schoenen Lou Rawls Tracks aus der Zeit zu hoeren… Candoli war wohl einer bekanntesten Musiker im West Coast Jazz der 50er und danach in den Studios ein gefragter Mann (>800 discogs credits). Migliori kam eigentlich aus der Bostoner Jazzszene der 50er, spielte dort in einer Band mit dem legendaeren zu frueh verstorbenen Pianisten Dick Twardzik. Inzwischen ist von dieser 50er Band was auf Fresh Sound erschienen – aber ich nehme an, dass Twardzik ziemlich vergessen war, als Migliori 1980 beschloss, den Track Yellow Tango aus dem gemeinsamen Repertoir nochmal aufzunehmen. Twardzik hatte das Stueck auch selbst fuer Pacific Jazz in einer Trioversion eingespielt (link). Migliori war dann in den 60ern und 70ern einer der gefragtesten Studiomusiker (Beach Boys, Leonard Cohen, Frank Zappa, Neil Young…). Was ich an dem Track sehr mag, ist, wie zeitlos die beiden Solisten wirken… auf mich jedenfalls. Ueber Joe Lettieri, den Pianisten, der das hier einwandfrei macht, weiss ich sehr wenig – auf discogs scheint sich zwischen „Joe Lettieri“ und „Joe Lettieri (2)“ auch einiges zu mischen.

Michael Stuart / Keith Blackley Quartet – In View

Eine Komposition des Pianisten George McFetridge (p) von dem Album Determination. Michael Stuart (ss/ts) kam 1978 oder 79 nach einer Tour mit Elvin Jones zurueck nach Toronto und gruendete mit dem Drummer Keith Blackley eine kurzlebige gemeinsame Band inklusive selbstproduziertem Album. Viel mehr weiss ich auch nicht – ich hatte irgendwo gelesen, das Album sei toll, und dann sehr guenstig ein Exemplar mit beschaedigtem ersten Track gefunden. Stuart war davor wie danach recht aktiv auf der kanadischen Szene. Wie man hier hoeren kann, ist er ein Tenorist aus der Mainstream-Coltrane-Schule der 70er mit vergleichsweise attraktivem Ton. Ueber Blackley findet man eigentlich nur, dass sein Vater Jim Blackley ein legendaerer Schlagzeugpaedagoge war. McFetridge und Steve Wallace (b) haben ueber die Jahre beide recht viel aufgenommen, meistens irgendwie in kanadischen Bands. McFetridge uebernahm in den 80ern aber zB auch den Bassposten in der Band von Jim Schapperoew.

Jim Schapperoew – Lover Man

Wer war Jim Schapperoew? Die Frage stellte sich mir eigentlich zum ersten Mal vor einigen Jahren, als ich den Namen in der Diskografie von Frank Strozier las… Tatsaechlich erklaert Schapperoew hier recht klar, wer er war und ist, ein offensichtlich begabter Schlagzeuger, der in den 70ern recht aktiv in Boston war. Dort traf der Charles Farrell, dessen Autobiografie ich gerade lese. Die Aufnahme hier ist von 1980, kurz bevor Farrell seine Jazzkarriere aufgab um in der Boxwelt richtiges Geld zu verdienen (wie er zB hier oder in seinem Buch (Low)Life erklaert)… Tatsaechlich war dieser Track meine erste Begegnung mit Farrell, als ich damals „This One’s for Pearle“, ein selbstproduziertes Album von Schapperoew fand, wo es der erste Track ist. Farrell und Schapperoew sind auf dem Album sowas wie die Kernband, zu der ziemlich illustre Gaeste kommen, Cecil McBee (b) auf dem Track hier, und Steve Swallow, Buster Williams und Frank Strozier auf anderen. Wir hatten das ja schon ein bisschen, ich find den Track vor allem wegen der Interaktion in den ersten Minuten beeidruckend. Schapperoew hat sich tatsaechlich vergleichsweise gut darum gekuemmert, das seine selbstproduzierte Musik erhaeltlich bleibt, auch wenn er die Zusammenstellungen der Alben nochmal ueberdacht hat. Den Track Lover Man – scheinbar der einzige im Trio mit Cecil McBee – ist auf einer raren Doppelcd erschienen und auch als download auf bandcamp erhaeltlich. Dort schreibt Schapperoew auch nochmal zu dem Track: „The Trio improvising over the chord changes at a very slow tempo. We don’t play the melody.“

Diesen Artikel von 2011 ueber Farrell fand ich ganz erhellend, wie sie in den 70ern nie wussten, ob Farrell jetzt nur ein Scharlatan ist, oder auch ein Scharlatan.

I first met Farrell because we both write about boxing, a world rich in shifty characters. He speaks with the authority of experience about fixes, mismatches, the bunkum behind the facade of heroic competition. He’s forthright about having been a hustler, and those who remember him as a young jazz insurgent in the ’70s say that he had a Barnumesque air that could clash with the rigor of his virtuosity.

Steve Elman, who hosted a jazz show on WBUR, told me: “You could hear right away that he had the technique and training, but he was going out of his way to make it hard to listen. He went on too long, thumbing his nose at people, turning them away. He had a serious musical idea, but mixed in with that was a desire to be a charismatic character.’’

Bob Blumenthal, who was a jazz critic for the Globe, said, “He was a true experimenter, not a charlatan, but experimenters do give cover to charlatans by breaking the rules.’’ And Farrell sometimes muddied the distinction. Blumenthal said: “He called me when I was writing for the Phoenix in the mid-70s, at a time when I had never heard of him, and invited me to his house to hear him play. He asked me to come on a Wednesday, but since he had decided not to speak on Wednesdays, I was informed that I would not be able to converse with him. I went and was impressed with his playing, and a few days later we had a nice conversation on the phone.’’

Schliesslich fuer die Klammer: Farrell ist ein Klavierschueler von Madame Chaloff, Mutter des Saxophonisten und legendaere Paedagogin, genau wie Dick Twardzick und Keith Jarrett und viele andere Meister des Jazzklaviers.

Kenny Gill – Flatbush

Kenny Gill hingegen besuchte genau wie John Coltrane die Granoff School in Philadelphia. Dieser Track ist zehn Jahre aelter als die anderen, 1970 statt 1980, und auch als einziger auf einem Major Label erschienen… Es muss hier eine Geschichte geben, aber sie ist, soweit ich weiss, nie erzaehlt worden. Kenny Gill, 27 Jahre alt, Klaviertalent und Coltranefan aus Philadelphia muss irgendwie die Mitglieder der Youngbloods kennengelernt haben, die damals von ihrem Label Warner ein Sublabel zum experimentieren bekommen hatten… Gill ist auf einem Album (Crab Tunes / Noggins) als Pianist zu hoeren und bekam die Chance, sein einziges Album einzuspielen, das im Katalog direkt neben Armchair Boogie von Michael Hurley steht – auch das ein gutes Album, aber doch sehr anders. Gill lebte natuerlich inzwischen in New York, hatte dort scheinbar den 19jaehrigen Bob Berg kennengelernt, zu dieser Zeit ein ungeschliffenes Saxophontalent… den Rest der Band haette man so auch bei Pharaoh Sanders in der Zeit hoeren koennen, Stafford James (b), Norman Connors (dr) und Carlos Garnett als zweiter Tenorist (der auf anderen Tracks aber mehr gefeatured wird, so dass es insgesamt fair bleibt). Was ich an dem Track und dem Album so spannend finde, ist, dass er irgendwie diesen Moment ca 1970 festhaelt, als der Spirit von Coltrane auch unter den weissen New Yorkern noch lebendig war, kurz bevor Grossman und Liebman, das alles kodifizierten, runterkochten und die Flamme an Michael Brecker weitergaben. Kenny Gill lebte nach diesem doch recht vielversprechenden Album, das angeblich auch eine fantastische Downbeatrezension bekam, noch etwa zehn Jahre, bis er 1981 in New York an einer Ueberdosis starb. Die Todesursache hat sgcim auf .org erzaehlt, der einige Leute aus dem Umfeld kannte, das Datum hab ich in muehevoller Kleinarbeit ermittelt und auf discogs ergaenzt ;) Musikalisch hoerte man beinah nichts mehr von ihm, nur auf zwei Alben der Songwriterin Amy Sheffer, einer Art Underground Patty Waters, ist er zu hoeren (kenn ich aber nicht).

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