Antwort auf: Ich höre gerade … Jazz!

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gypsy-tail-wind
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Keith Jarrett / Gary Peacock / Jack DeJohnette ‎– My Foolish Heart: Live at Montreux | Da bin ich jetzt auch … der Einstieg ist in der Tat atemberaubend, den Applaus zumal nach „Oleo“ würde ich aber überhaupt nicht als verhalten betrachten. Das ist ja eh immer schwer einzuordnen, plus die Schweizer sind da zurückhaltend … in Montreux hat man vielleicht direkt davor die Yellowjackets gehört und danach kam Alanis Morissette oder sowas – ob da wirklich ein Jazzpublikum im Saal sass bzw. wie hoch der Anteil an Geldsäcken, die Jarrett halt noch „mit nahmen“, weil „den kennt man doch? gehen wir mal hören“ … kann ich überhaupt nicht einschätzen. In „What’s New“ führt die (relative) Ratlosigkeit noch zu einem Zitat von „Lullaby of Birdland“. „The Song Is You“ ist dann wohl der Versuch, wieder in Schwung zu kommen, aber es stimmt schon, so richtig abheben tut auch das Stück nicht (und vielleicht spielte ja Suzanne Vega davor, denn bei 2:46 klingt vielleicht „Tom’s Diner“ an?). DeJohnette ist hier im Overdrive, aber es verfängt irgendwie einfach nicht – obwohl, das langgezogene Outro ist dann schon wieder ziemlich super, da scheinen sie alle aufgewacht und riffen genussvoll über einen kleinen Vamp.

„Ain’t Misbehavin'“ ist dann tatsächlich super, aus dem Stride wird ein Stomp, und früh im Bass-Solo scheint Peacock schon an „You Took Advantage of Me“ zu denken – und Jarrett in den Fours an „Them Their Eyes“ … und neben Waller auch an Art Tatum. Hatten die eine Setlist dabei, die vorgängig fixiert wurde, oder gab’s da jeweils auf der Bühne eine Anweisung von Jarrett oder eine kurze Absprache? Ähnlich toll geht es weiter in „Honeysuckle Rose“ – hier komme ich jedenfalls mit diesen Stride-Einverleibungen sehr sehr viel besser klar als in „Always Let Me Go“ – und spätestens in „You Took Advantage of Me“ ist das Trio wieder in den lichten Höhen angelangt, mit denen das Konzert begann. Hätte man ja so auf 70 Minuten zusammenschneiden können, aber ich finde es ja immer faszinierend, Konzerte vollständig hören zu können!

Danach geht das, wie @vorgarten neulich geschrieben hat, wirklich toll weiter. In „Straight No Chaser“ spielen die drei, als wären sie in Parallelwelten unterwegs. Was DeJohnette hier anstellt, ist total faszinierend – und noch faszinierender ist, dass es funktioniert. Ich nehme an, auf solche Passagen bezieht sich Jarretts Kommentar in den Liner Notes: „Jack bustles through the music, creating whirlwinds and traffic jams from which he re-emerges (as do we) unscathed and somehow better for it.“ Auch hier wollen sie nicht aufhören, Zeit wird gedehnt, es wird gerifft, nach der Themenrekapitulation spielt Jarrett noch ein Solo-Outro, bevor es mit der Nummer weiter geht, die hier wohl die am seltensten gehörte ist, „Five Brothers“ von Gerry Mulligan, im mittelschnellen Tempo und vom ersten Takt an hart swingend – aber mit einer anfänglichen Zurückhaltung, die den beiden „Durchhänge“-Nummern der ersten Konzerthälfte vielleicht gut getan hätte, weil so viel mehr Raum da ist, in dem etwas entstehen kann. Jarrett ist weiter in Zitierlaune und spielt hier „Bewitched, Bothered and Bewildered“ an. Mit den prägnanten Stakkatofiguren der linken Hand Jarretts und Peacock/DeJohnette entsteht hier stellenweise wieder ein angedeuteter old-time Groove, der sich dann aber zunehmend verflüssigt.

An „Guess I’ll Hang My Tears Out to Dry“ habe ich mich gerade festgehört – das Stück lief dreimal, bevor ich fortfahren konnte. Peacocks Solo ist in der Tat wunderbar, aber das gilt für die ganze Performance, nach dem Titelstück die zweite Balladengrosstat hier. Der Ausklang mit „Green Dolphin Street“ mag etwas routinierter klingen, doch dann folgt mit „Only the Lonely“ noch einmal eine wundervolle Ballade als Zugabe.

Das reiht sich hier ab heute direkt in die Lieblingsaufnahmen dieses Trios ein – bin mir übrigens ziemlich sicher, dass ich das noch nie zuvor angehört habe. Sehr, sehr schön! Habe jetzt fast etwas Angst, direkt mit „The Out-of-Towners“ weiterzumachen …

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba