Antwort auf: Keith Jarrett

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friedrich

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Diese Album wurde hier hin und wieder erwähnt. Ich hatte dazu noch ein paar Worte in petto.

Keith Jarrett Trio – Live At The Deer Head Inn (Aufnahme 1992, veröffentlicht 1994)

Das Deer Head Inn ist ein Gasthof in der Nähe von Keith Jarretts Wohnort und sieht aus wie ein Landhaus in ländlicher Umgebung, das man für größere Familienfeiern mieten könnte. Außerdem wird da aber auch seit Jahrzehnten am Wochenende Jazz gespielt. Keith Jarrett hatte dort als High School-Absolvent seinen ersten ernsthaften Auftritt als Pianist im Trio, als er an einem Abend mit befreundeten Musikern die Hausband vertrat.

Nachdem mehr als 30 Jahre später die Eigentümer das Deer Head Inn an Tochter + Schwiegersohn übergaben, wurde dies zum Anlass genommen, Keith Jarrett mit seinem Trio einzuladen. Zwar hatte er dort immer mal wieder als drummer (!) mit der Hausband gespielt, aber nicht als Pianist. Er war damals – 1992 – ja schon längst ein Star. Umso ungewöhnlicher ist es, dass er dort an einem Mittwochabend vor vielleicht 200 Zuhörern und ein paar Zaungästen auf der Veranda auftrat.

Live At The Deer Head Inn klingt gelassen und unangestrengt, so als sei überhaupt kein Druck dahinter, keinerlei Erwartungshaltung. Im Publikum wird etwas geschwatzt und ein paar Gläser klirren. Das wirkt so, als spiele Jarrett für Freunde im Club nebenan, nur um einen netten Abend mit alten Bekannten zu haben. Ein Heim- und Freundschaftspiel. Die Aufnahme war ursprünglich auch gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen. Das klingt intim und ein wenig rustikal, Jazzclub-Athmosphäre. Paul Motians drums scheppern manchmal ein bisschen und vielleicht ist Gary Peacocks Bass auch mal etwas zu leise. Das Deer Head ist eben kein Musentempel und produziert hat der Hausproduzent des Deer Head, Bill Goodwin.

Solar, der entspannt groovende Basin Street Blues und Jacki Byards Chandra (das mir völlig unbekannt war) werden vom Trio sehr schön locker umspielt, das swingt schön, man tappt mit dem Fuß mit und Jarrett singt mit, als sei er allein zuhause. Soweit alles sehr gut.

Aber dann gibt es da ein paar zauberhafte Momente, wo die Musik zu schweben beginnt, sich verdichtet oder überraschend die Richtung wechselt. Da kommt Spannung auf. Bei You Don‘t Know What Love Is wechselt Jarrett nach gut 5 Minuten anscheinend völlig unvermittelt das Thema, türmt ein Klanggebilde auf, es wogt und wallt, jede Menge Pathos. Man erstarrt fast vor Ehrfurcht. Abschließend Easy To Remember, bei dem man 7 Minuten lang die Luft anhalten möchte und mucksmäuschenstill wird, so zart und zerbrechlich klingt das. Zwischen den getupften Tönen zieht ein Lufthauch durch, man meint das Publikum mit offenem Mund und feuchten Augen lauschen zu sehen. Kurz vor dem Ende, als die letzen Töne langsam verklingen, hört man ganz leise ein Auto am Deer Head Inn vorbeifahren. Die Spannung löst sich, jemand aus dem Publikum gibt ein befriedigtes „Yeah!“ von sich und die Zuhörer applaudieren beglückt. Sie werden noch ihren Enkeln erzählen, was sie damals erlebt haben.

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)