Antwort auf: Auswertung der Umfrage: Die 20 besten Tracks von The Velvet Underground

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wahr

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jesseblue

gipetto Auch traurig finde ich, dass I Heard Her Call My Name die Top 20 nicht knacken konnte.

Mein „Problem“ mit diesem Stück ist, dass es beim Hören sehr anstrengt. Wenn es ertönt, ist ein Weghören unmöglich. Anders als andere Tracks der Band konfrontiert es den Hörenden sofort mit der eigenen Melodieführung. Ich fand die Spuren immer etwas zu durcheinander und zu wild harmonierend. Einzeln höre ich „I Heard Her Call My Name“ zugegeben so gut wie nie, im Kontext des Albums funktioniert der Track aber (besser).

Es gibt keine seltenen Phasen, an denen ich I Heard Her Call My Name zehnmal hintereinander höre. Das Gitarren-Solo, das gipetto und ich so unfassbar unglaublich gut finden, kommt ja nicht einfach so rein als minutenlanges zufälliges Fiepen, sondern es folgt einer kompositorischen Dramaturgie, die sich auch aus den Lyriks speist, denn diejenige, die der Protagonist seinen Namen rufen hört, ist schon lange nicht mehr am Leben:

I know that she cares about me / I heard her call my name / And I know that she’s long dead and gone / Still she ain’t the same / When I wake up in the morning / I heard her call my name / I know that she’s gone, gone, gone / I heard her call my name

… und dann ist es soweit, nachdem Reed seinen Namen hat rufen gehört, von einer längst toten Frau, dann kommt das Solo. Aber davor singt Reed noch einen einzigen Vers – und an dieser Stelle wollen wir kurz verharren, bevor es weiter geht. Die Zeile lautet nämlich:

And then my mind split open…

Nun hängt also eine Millisekunde diese Zeile da: Und dann reißt mein Geist auf…

Wir befinden uns in jenem Moment am Rande des Übersinnlichen. Wie vertone ich in einem Gitarrensolo meinen sich klaffend öffnenden Geist? Und in was sehe ich dann? Keith Richards hatte zur selben Zeit mit einem ganz ähnlichen Problem zu tun: Wie vertone ich das übersinnliche Böse in einem Gitarrensolo, wie lege ich dessen Kern frei, wenn es sich mit guten Manieren tarnt? Und beide sind eigentlich zu ganz ähnlichen Ergebnissen gekommen: Ein passendes Gitarrensolo muss einschlagen wie ein Blitz, es muss hell leuchten in weißem Licht, es muss schneiden und weh tun, es muss aber auch in der Lage sein, die Sinne des Höres so weit noch am Laufen zu lassen, dass es den Eindrücken folgen kann, ohne zu kapitulieren.

Und dafür braucht es eine Dramaturgie. Dafür müssen die Schnitte und Schreie dosiert sein. Der Hörer muss das Solo an seiner Grenze vermuten – und dann muss die Grenze überschritten werden. Richards macht es so (natürlich auf Sympathy For The Devil), wenn auch nicht ganz so exzessiv (dafür ökonomischer und auf seine Art nicht weniger brillant), Und Lou Reed mach es eben auch. Da er aber noch aus anderen Zusammenhängen kommt (er kannte sicher die spirituellen Free Jazz-Feuer, die aus allen Ecken New York Citys gespien sind) und ein technisch nochmal anders aufgestellter Gitarrist war als Richards, dreht er die Darmaturgie des schrillen Feedbacks und der spitzen Schreie noch weiter, bis sie am Ende für die letzten Minuen ganz den Track übernehmen, sich aus einem vermuteten Zwischensolo emanzipieren und weiter schreien und sich zuspitzen und man denkt, was ist das hier gerade, wo ist der Song, wo der schöne Refrain, bis man versteht, dass der Refrain und überhaupt aller Gesang und alle Worte in dem Augenblick nicht mehr existierten, als der Geist auzureißen beginnt.

Das Solo von Sunday Morning ist auch superschön, und es passt eben fein zu dieser Sonntagmorgenstimmung. Ich möchte nicht an einem Sonntagmorgen von einem Solo den Geist aufgerissen bekommen wie in I Heard Her Call My Name. Der Sonntagmorgenaugenblick ist ein anderer Augenblick als derjenige, an dem man die Stimme einer längst verstorben Frau den eigenen Namen rufen hört. And the mind split open…