Antwort auf: Culture Wars, Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism …

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gypsy-tail-wind
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bullschuetz
By the way: Die Diskussion hier hat mir geholfen, mein eigenes Unbehagen mit dem CA-Konzept besser zu verstehen.
Ich glaube, es ist kein Zufall, dass ich mit den meisten Argumenten von @.herr-rossi@.go1 und @.gypsy-tail-wind so d’accord gehen kann: Das sind ja alles wichtige Reflexionen über reale Machtstrukturen in der kulturellen Arena. Critical whiteness im besten Sinne sozusagen, Ausleuchtungen weißer Dominanz, die sich als Toleranz tarnt, alles gedacht von einem linken, gerechtigkeitssensiblen Standpunkt aus. Das finde ich gut, und so gesehen müsste ich das CA-Konzept eigentlich sympathisch finden.
Umso mehr treibt mich der Eindruck um, wenn ich wahrzunehmen glaube, dass ein im Kern sinnvolles linkes Konzept seinerseits ins Intolerante, auch Sektiererische umzukippen droht. Das macht mich nervös.

Das mit dem Unbehagen geht mir sehr ähnlich. Ich habe in dieser Diskussion bisher keine Aktien im Spiel (und bin auch über die bissigen Angriffe von @bullitt etwas irritiert – das hat mit Eurozentrismus zu tun, dass … schon mal vom Kolonialismus gehört? Schon mal den Wohlstand des „Westens“ kritisch hinterfragt? Die Ausbeutungsmechanismen, die immer noch weiterlaufen? Klar, ist ja auch bequemer, den Kopf in den Sand zu stecken). In erster Linie bin ich daran interessiert, zuzuhören. Wenn dann die schnellen Handwischbewegungen („Grossmaul“*) kommen, interessiert mich das eher nicht und vertreibt mich aus der Diskussion, weil eben: frustrierend (auch wenn vielleicht in der Sache nicht falsch, aber das kann man ja auch mal ausdiskutieren, weil eben: Unbehagen, keine Aktien im Spiel).

*) mag auf den betreffenden Tweet zutreffen, aber was Silpayamanant so alles an Links zusammengetragen hat, finde ich enorm lohnend und möchte den Sachen auch in Ruhe nachgehen.

redbeansandrice
ich find das Beispiel mit „ich mag eigentlich alle Musik“ wirklich ziemlich schlecht… wenn ich persoenlich das sage, meine ich damit primaer, dass ich es eigentlich immer gut finde, wenn ich irgendwie hinkomme, und es wird Musik gespielt… Jazz waere am besten, aber von Klassik bis Schlager ist wirklich vieles fuer mich besser als Stille… und da kann es jetzt natuerlich sein, dass es da draussen irgendeine Kultur gibt, deren mir unbekannte Musik in meinen Ohren so graesslich klingt, dass ich sie nun wirklich nicht hoeren will… aber ich find es voellig akzeptabel, wenn man das nicht explizit dazusagt, waere ja auch nicht besonders nett, und vielleicht braucht man ja auch einen Moment um reinzukommen…
dazu kommt, dass es ja immer einen Kontext gibt, und dass man in der normalen Sprache (anders als etwa in der Mathematik) nicht immer alle Qualifikationen und Einschraenkungen explizit macht… wenn ich nach Hause fahre, und meine Mutter fragt, was ich gerne essen will, dann kann es gut sein, dass ich „ich find alles lecker“ sage… und da ist dann implizit mit drin, dass ich damit die Sachen meine, die es zu Hause normalerweise so zu essen gibt, dass ich nicht nochmal explizit alles aufliste, was mir zu Hause nicht schmeckt (weiss sie eh – und wenn ich den Heringsauflauf von 1996 nochmal auspacke, freut sie sich auch nicht), und ja, ich erwaehne auch nicht explizit die Kuechen aller Kulturen, die uns beiden fremd sind… ukrainischen Weisswurstpudding wird es schon nicht geben… und wenn doch, dann ist es halt so… Kommunikation ist auch nie perfekt, im Alltag ist „alles“ beinah nie woertlich gemeint…
das heisst nicht, dass man nicht vor rassistischen Denkmustern auf der Hut sein sollte, dass „ich mag alle Arten von Musik“ auch mal ausschliessend sein kann … man kann eigentlich fuer jeden Satz eine Situation konstruieren, in der er voellig unangemessen ist…

Der Relativmus des letzten Satzes im Zitat führt uns natürlich keine Centimeter weiter, aber egal. Ich dachte auc nicht an Leute, die keinen Bezug zu Musik haben oder tatsächlich, wie Du es bist, für sehr vieles offen. Es gibt ordentlich Leute, die z.B. Klassik, Rock aller Spielarten, Blues, Jazz, Elektro usw. hören, aber z.B. Hip Hop (und gerne auch Country) als Schund und Schrott diffamieren. Und die meinen, mit ihren Interessen eben „alles“ abgedeckt zu haben. Und @latho hat ja das Begriffsdurcheinander in den Punkten, die ich referierte, aufgelöst (danke – war kein bewusster Fehler, ich hatte schlichtweg keine Zeit, das alles nochmal in Ruhe zu lesen bzw. überhaupt zu suchen), aber ich denke halt trotzdem, dass da unerkannte Denkmuster mit Dünkel und Überlegenheitskomplexen dahinter stecken können. Das Beispiel von @nicht_vom_forum ist ja sehr passend:

nicht_vom_forum
Eine ehemalige Mitschülerin, die nach dem Abitur Gesang studierte, teilte mir beim fünfjährigen Jahrgangstreffen während der Unterhaltung mit, sie würde „alles singen: Oper und Lied“…

demon

gypsy-tail-wind
Und aus dem Argument mit den europäischen Instrumenten, die ja von den Afro-Amerikanern genutzt worden seien/werden, wird auch ein Schuh, wenn man weiss, dass es schon im Barock Sklavenorchester gab, die eben genau auf „unseren“ Instrumenten für unsere Vorfahren spielen … diesen als Skaven gehaltenen Musikern nun cultural appropriation vorzuwerfen, wäre auch eher das grobe Modell, nicht?

Tut ja auch keiner. Mit dem Beispiel „Fela Kuti“, wollte ich ja nur andeuten, dass eine (freiwillige!) „Aneignung“ fremder Kultur keinen Schluss auf eine böswillige oder rücksichtslose Absicht zulässt.

Meine Anspielung galt nicht der Erwähnung von Fela Kuti, sie verwies auf die Klammer im Statement von @reino („Außerdem ist ja auch die Musik der amerikanischen POC ohne den Einfluß aus Europa nicht denkbar (und sei es nur durch die Wahl der Instrumente).“), das eben die historische Dimension vollkommen ausser Acht lässt bzw. nachträglich Dinge auf den Kopf stellt, weil schon deren Vorfahren diese Instrumente zu bedienen wussten, nachdem sie auf den Galeeren verschleppt worden waren … das gängige Erklärungsmuster „Rhythmen aus Afrika, Instrumente aus Europa“, und damit dann ca. 1900 oder etwas früher bei den Frühformen von Jazz und Blues (Kreolen in New Orleans usw.) ansetzen: das reicht mir einfach nicht. Das geht alles viel weiter zurück, und es gibt in Lateinamerika diverse andere, ebenfalls ältere Vermischungen (Santería z.B.). Es gibt z.B. auch eine spezifisch lateinamerikanische Barockmusik, die in den spanisch beherrschten Gebieten aufblühte (auch da sind wunderbare Entdeckungen zu machen) – wer die wohl damals aufführte? (Ich weiss es nicht, vermutlich gibt es auch bereits Forschung dazu, die ich aber nicht kenne … wie gesagt: ich lese, höre zu, versuche, das eine oder andere zu verarbeiten … und ich empfinde es so, dass allein das mir schon sehr viel gibt: Stoff zum Nachdenken, um eigene Gewissheiten zu hinterfragen usw. – und mich dünkt, dass dies möglicherweise das Gebot der Stunde ist, ich hoffe jedenfalls, dass wir nicht in 20 oder 30 Jahren auf die 10er und 20er zurück blicken als „die Epoche, in der sich das rechtspopulistische Modell allmählich durchsetzte“ – ich mag ein hoffnungsloser Romantiker sein in der Hinsicht, aber ich hoffe ich noch, dass Denken hilft).

demon

gypsy-tail-wind
Interessant ist ja dabei, dass gerade die Szene der „alten Musik“ ganz enorm weiss ist …

Ja… ???

Willst du jetzt die „Aneignung“ einer zeitlich fernen Periode unserer Kultur vergleichen mit der Aneignung einer geografisch/ethnisch fernen Kultur? Im ersten Fall gibt’s eben nicht das Problem eines ehemaligen oder aktuellen Herrschaftsverhältnisses, und keine damit verbundenen moralischen Fragen – sondern „nur“ künstlerische. Die sind hier aber ein der Tat ein Minenfeld…

Es geht doch nicht um die zeitliche Ferne – es geht darum, dass die klassische Musik schon im Barock und danach in der Klassik mit Mitteln der Ausbeutung entstanden ist – und ergo darauf in der Form, wie sie im heutigen Konzertleben noch am relevantesten ist, basiert. Und es wäre wichtig und richtig, das in der Aufführungstradition zu reflektieren.

Lies z.B. mal den Wikipedia-Eintrag über den Chevalier de Saint-Georges und besonders die Begegnung mit Mozart:
https://en.wikipedia.org/wiki/Chevalier_de_Saint-Georges
Wer wird da wohl wen beeinflusst haben? Und wie präsent ist Saint-Georges in der Konzertwelt? Klar geht es da nicht nur um „Auslöschung“ oder was weiss ich, es spielen ganz viele Faktoren rein … und

Und: ja! Eben. Dabei ist doch die Klassikwelt an sich global. Musiker*innen aus China und Korea feiern riesige Erfolge, auch für Opernsänger*innen aus Südafrika oder Dirigent*innen aus Lateinamerika ist inzwischen in ein paar Nischen an den wichtigsten Häusern etwas Platz gemacht worden – aber der Blick auf die Materie hat sich dadurch bisher nur wenig verändert.

Und in der Welt der alten Musik scheint das eben noch viel eklatanter zu sein. Dabei wird eben dort gerade die Musik gespielt, die der Sklaven-Investor Händel komponierte (fabelhafte Musik, keine Frage!).

Aber gut, dieser Punkt ist sicher in der Welt der „klassischen Musik“ (also der europäischen klassischen Musik) von viel grösserer Bedeutung als in anderen Gebieten – diese Feld ist aber eines, das mich seit 10 Jahren sehr stark beschäftigt und ergo beschäftigt mich eben auch diese Debatte – ich gehe zwar immer wieder ins Konzert, habe aber (analog zur ganzen Cultural Appropriation-Sache) diverse Fragezeichen dabei: schon seit Anbeginn bzw. seit bevor ich überhaupt zum Konzertgänger wurde: Elitenkultur, viel zu hoch angesetzte Schwelle, aussterbender Nachwuchs ob dem schieren Unwillen, der aktuellen Geldsäcke-Generation, daran etwas zu ändern, zudem scheint mir nach wie vor, dass von den anwesenden Geldsäcken viele gar nicht begreifen, was da jeweils passiert (Eventitis, die dann aber – wenn’s Technoparaden oder Volksfeste betrifft – gerne denunziert wird … ist halt, einmal mehr, die elitenexklusive Eventitis, die ist halt nicht so schlimm), und jetzt halt eben auch noch das Wissen um die dunkleren Flecke in der Vorgeschichte.

demon
Kein Mensch kann sich für ALLES interessieren und von ALLEM eine Ahnung haben!

Es wäre doch schön und ein guter Anfang, wenn das ALLE mal einsehen würden :yes:

Da sind jetzt gefühlt nur die Hälfte der Gedanken drin, die ich gerne äussern möchte, aber mehr schaffe ich gerade echt nicht mehr … hoffe, ich konnte das eine oder andere etwas verdeutlichen.

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