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bullschuetz
Tatsächlich riechen für mich manche Auswüchse des CA-Konzepts ziemlich identitaer, wenn auch aus einer linken und meinetwegen gut gemeinten Perspektive. Da geht es um Macht und um Deutungshoheit, und das finde ich etwas beklemmend.
Das haben Auswüchse so an sich. Selbstverständlich würden wir letztlich wiederum bei rassistischen Konzepten landen, wenn man „cultural appropriation“ nicht als Thema (selbst-)kritischer Reflexion versteht sondern als: „gehört verboten“. Das ist aber eine überspannte Fehlinterpretation. Darüber müssen wir hier nicht ernsthaft streiten, das sollte Diskussionsgrundlage sein.
„Cultural appropriation“ ist nicht „thing good“ oder „thing bad“, um es mit Lindsay Ellis zu sagen (ich kann ihr Essay wie ihren Kanal insgesamt nur wärmstens empfehlen), sondern: „thing exists“. Gehört zum Wesenskern von Kultur, aber über diesen Wesenskern sollte man als Kulturschaffender und Kulturrezipient durchaus kritisch nachdenken dürfen, ohne dass gleich vor radikalen Tendenzen gewarnt wird. Umgekehrt wird eben auch ein Schuh daraus: Wer über die Problematik der CA öffentlich nachdenkt, wird auch schnell in eine Ecke gestellt – der will etwas „verbieten“, der will Kultur verhindern oder behindern. Deswegen hatte ich ja eingangs gesagt, dass diese Diskussion eine Tendenz hat, dass sofort Verteidigungsgräben ausgeworfen werden, anstatt sich erstmal damit zu befassen, worum es eigentlich geht.
Kunst sollte doch nicht in erster Linie korrekt sein, sondern immer wieder auch maßlos, grenzgaengerisch, verrückt, wild, abenteuerlustig, Kunst sollte auch nicht in erster Linie sortenrein sein, sondern ein lustvoll und schamlos sich mit allem, was seinen Weg kreuzt, paarender Bastard.
Das mit dem „(politisch) korrekt“ ist aber auch ein „framing“, das heute schnell bei der Hand ist, um Kritik auszugrenzen und als nicht statthaft abzuhaken. Mal abgesehen davon, dass ein Großteil der (Populär-)Kultur diesen von Dir genannten Ansprüchen gar nicht genügt oder auch nur genügen will: Auch grenzgängerische, wilde, lustvolle Kunst entsteht nicht gedankenlos. Im Gegenteil, hinter jedem Kunstwerk – ob Gemälde, Plastik, Drama, Gedicht, Roman, Fernsehserie, Kinofilm usw. usw. – stecken unendlich viele Gedanken und Arbeit. Kaum etwas entsteht ad hoc, sondern das Ergebnis von viel Arbeit, Überlegung und unendlich vielen Entscheidungen, die der Künstler, das Produktionsteam usw. fällen müssen. Wieso sollte dabei die Frage von vornherein ausgeklammert sein, ob man, wenn man sich bei der künstlerischen Arbeit Elemente anderer Kulturen bedient oder andere Kulturen in seinem Werk porträtiert, auf welche Weise man das tut? Ob man dabei vielleicht einfach gedankenlos uralte Stereotype aus der Kolonialzeit wiederkäut? Ob man das „Fremde“ exotisiert, weil es ja so wahnsinnig „anders“ und „aufregend“ ist?
Klar, Kunst „darf“ in einer offenen Gesellschaft rein juristisch fast alles, Satire auch, und das muss auch so sein. Aber: Der Künstler, der Satiriker usw. haben sehr wohl, wie jeder andere Mensch auch, eine Verantwortung für das, was sie tun – auch dafür, welche Stereotypen und Ideologien sie transportieren und am Leben erhalten. Das darf man kritisieren. Denn man darf an Kunstwerken alles kritisieren! Auch das gehört zur offenen Gesellschaft. Künstler und Satiriker verlangen nach Auseinandersetzung mit ihren Werken, aber wenn die Reaktion nicht wie gewünscht ausfällt, wird sie ganz schnell als „spießig“, „humorlos“, „(politisch) korrekt“, „cancel culture“ usw. abgetan und angegriffen.
Es geht da ja auch um Fragen wie: Darf ein weißer Mann einen Roman aus der Ichperspektive einer schwarzen Frau erzählen? Meine Antwort: selbstverständlich, verdammt nochmal! Ob dabei Kunst rauskommt oder nur ein Puzzle aus Klischees, muss die Literaturkritik bzw die Lektüregemeinschaft entscheiden, nicht der kulturelle Sittenwaechter.
Wiederum „framing“: Hier Kritik und Lektüregemeinschaft, dort der „kulturelle Sittenwächter“. Wer entscheidet, wer nur „kultureller Sittenwächter“ ist und wer zur legitimen Kritiker- und Lektüregemeinschaft zählen darf?
Versteh mich richtig: Ich unterstelle Dir nicht, das alles genauso intendiert zu haben. Ich will nur verdeutlichen, warum ich wiederum problematisch finde, was Du geschrieben hast.
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