Antwort auf: Ich höre gerade … klassische Musik!

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gypsy-tail-wind
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Das ist dann der ganz späte Horowitz … die DG-Aufnahmen habe ich irgendwo weit hinten versorgt, sie sprechen mich bisher eher etwas weniger an, als die Aufnahmen aus den Sechzigern, wo er nach seinem Abtauchen eine Tiefe fand, die er davor ob der Brillianz seines Spiels wohl manchmal etwas missen liess.

Kurzfassung der Geschichte hinter der 12jährige Konzertlücke (die längste von mehreren), soweit sie bekannt ist: 1953 sprang Georg Szell – ein Rüpel – für Mitropoulos (der eine Herzattacke erlitten hatte) ein, als Horowitz das Tschaikowsky-Konzert aufführen sollte, die Begegnung löste gemäss Horowitz eine tiefe Depression aus. Dazu gehörte nicht nur, dass er das Konzert zwar nicht „a piece of chunk“ nannte, aber seine so lautende Meinung bemerkbar machte, und im Anschluss noch eine herablassende Bemerkung zum Picasso (Saltimbanque assis, les bras croisés), den die Horowitzens in ihrem Wohnzimmer hatten, wo die Szells nach dem Konzert auch auftauchten und Herr S. angeblich zu seiner Frau sagte: „Aha! You see what painting they have here? You see what painting they have here?! It’s just like the pianist!“). Im Buch der Comeback-Box (das ganze ist ein Buch, die CDs sind im Deckel und Rücken in Laschen gesteckt, aus denen sie dauernd herausfallen) ist ein Foto von 1962 zu sehen, das Bild noch im Hintergrund, später haben sie es verkauft (angeblich aus versicherungstechnischen Gründen). Horowitz gab ein paar Wochen später noch ein letztes Solokonzert in der Carnegie Hall, dann zog er sich zurück. 1957 – nachdem ihn Toscaninis Tod im Januar erneut erschütterte – entstanden wieder Aufnahmen und die Rückkehr auf die Bühne wurde geplant, doch im Juni versuchte seine Tochter Sonia sich wohl, das Leben zu nehmen (ein Verkehrsunfall, bei dem ihre Schwester Wally zugegen war und einen Zufall/Unfall ausschloss: Sonia fuhr mit ihrem Roller in einen Bus). Horowitz erlitt einen Rückfall und unterzog sich 1958 einer Elektroschock-Therapie. 1959 machte er Aufnahmen, doch unterzog er sich noch einer zweiten, stärkeren Elektroschock-Therapie, die ihm zwar half, aber Nebenwirkungen hatte – v.a. Auswirkungen auf das Gedächtnis. So verzögerte sich die Rückkehr noch um ein paar weitere Jahre.

Sonia erholte sich von dem Unfall nie mehr ganz, Horowitz distanzierte sich von ihr, sie lebte fortan mehrheitlich in Europa und starb 1975 mit 40 in Genf an einer Medikamentenüberdosis. Horowitz selbst hat später gesagt, dass er noch bis 1974 an Depressionen gelitten hatte (die Geschichte fängt natürlich auch nicht erst 1953 an). Bernard Horowitz (nicht verwandt), dessen Essay in der Box ich das obige entnehme, verbindet die Reaktion Horowitz‘ auf Sonias Suizidversuch mit dem traumatischen Erlebnis um seinen Bruder Jacob. Dieser war 10 Jahre älter und Kriegsveteran und nach der Revolution (eine Zeit, die Horowitz anscheinend nicht mal mit seinem Psychiater besprechen mochte) hospitalisiert. Der jüngere Bruder besuchte ihn täglich, bis das nicht mehr ging – und Jacob sich erhängte.

Etwas mehr dazu kann man hier lesen, in einer Rezension der Comeback-Box, geschrieben vom Vater von Bernard Horowitz:
https://www.artsjournal.com/uq/2019/08/what-happened-between-vladimir-horowitz-and-george-szell.html

Und gleich höre ich das Konzert vom 9. Mai – wie immer, wenn Horowitz künftig in der Carnegie Hall spielen sollte, am Sonntagnachmittag, 15:30 Uhr. Los geht es mit Bach/Busonis Toccata, Adagio und Fuge C-Dur BWV 564, es folgt Schumann Fantasie C-Dur, nach der Pause dann Scriabin mit der 9. Sonate („Black Mass“) und dem Poème Fis-Dur Op. 32/1, und als letzter Teil vor den Zugaben Chopin mit der Mazukra cis-Moll Op. 30/4, der Étude F-Dur Op. 10/8 und der ersten Ballade in g-Moll Op. 23. Als Zugaben spielte er dann Debussy („Serenade for the Doll“ aus „Children’s Corner“), nochmal Scriabin (Étude cis-Moll Op. 2/1), Moszkowski (Étude As-Dur Op. 72/11) und zuletzt nochmal Schumann (die „Träumerei“ Op. 15/7 aus den „Kinderszenen“).

Das Bild oben ist das Rückcover der LP, das Frontcover zeigte ich ja gerade schon.

Zu den Splices noch: das waren anscheinend meist keine Fehler sondern Passagen, die Horowitz im Nachhinein nicht gefielen, Tempowechsel z.B., die er anders haben wollte – es gibt anscheinend sogar Beispiele für Splices, die ebenfalls Fehler enthalten. Horowitz spielte vieles immer wieder, aber er spielte es eben auch jedes Mal anders, was diese ganzen Mitschnitte (auch die Boxen mit den Konzerten in der Carnegie Hall sowie die mit den „Unreleased Live Recordings 1966-1983“) eben auch zusätzlich interessant machen (bzw. eben nicht zur grossen Ermüdung führen, von der ausgegangen werden könnte … das ist nicht wie bei Cliburn, der nur noch sein „piece of chunk“ [Szell, sooo unrecht hat er ja nicht mal damit ;-)] herunterrattern durfte).

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