Antwort auf: Jahresrückblick 2019

#10965751  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 66,996

@largo Das habe ich auch nicht so gesagt – es geht mir um deinen Relativismus, der mich ein klein wenig ärgert (schon der erste Post fing mit einem wie mir schien ein klein wenig vorwurfsvollen – „nicht einmal … eine Abqualifizierung“ – Unterton an). Natürlich gibt es keinen Determinismus, das dürfte inzwischen allen (ausser gestörten Religiösen aller Couleur, die in geschlossenen Weltbildern feststecken – aber ich hoffe, mit denn willst Du die Leute, die DIE Jazztradition verfolgen, nicht in denselben Topf werfen), aber das Gedankenspiel mit dem Baumwollpflücker und „Interstellar Space“ ist ebenso absurd wie die Behauptung, es hätte alles ganz anders kommen können. Etwas, was mich gerade in den Fünfzigern (und frühen Sechzigern), die ja für einen grossen Teil der Jazzhörerschaft zum „Kern“ wurden, immer wieder frappiert ist, was da alles gleichzeitig lief. Einerseits war das Dixieland-Revival noch immer in vollem Gang, andererseits traten die ganzen Swingmusiker weiterhin auf (bei manchen lief es aber auch nicht mehr so gut und sie mussten sich in der Dixieland-Szene verdingen oder verschwanden in TV- oder Hollywood-Studiobands), daneben gab es Hard Bop und bald auch abenteuerliche Klänge …

Dass der Hard Bop quasi eben zum Kernbestand wurde, halte ich nun wie schon angetönt auch nicht für puren Zufall (oder Marketing) sondern für durchaus in der Musik angelegt. Dazu gibt es hier von mir auch schon so einiges zu lesen, aber ganz kurz gesagt war es – nach dem Bebop, der viele Leute von der Kopf stiess – der letzte neue Jazzstil, der quasi Mainstream war/sein wollte/sein konnte, der aber gerade dadurch, dass er quasi offen war, auch Raum für experimentellere Klänge liess, aus denen sich teils die Avantgarde entwickeln sollte („Kind of Blue“, George Russell, „My Favorite Things“, Eric Dolphy, Andrew Hill, der frühe Cecil Taylor, die „Blue Note-Avantgarde“ mit Jackie McLean, Bobby Hutcherson, Sam Rivers, Larry Young etc. …).

Klar hätte die Entwicklung anders verlaufen können, aber das tat sie eben nicht – und klar, es gibt Sackgassen, es gibt die Vergessenen, diejenigen, die Übergangen wurden usw., die Geschichte ist selten Gerecht, wenn sie noch von einem oftmals mafiösen Business (aka Unterhaltungsindustrie) getrieben wird, ist es gewiss nicht gerade besser. Aber ist doch heute auch so einfach wie noch nie, auch auf verschlungenen Pfaden durch Jazzgeschichte zu störbern, Internet sei Dank. Mit einfachen Pendelmodellen (heisser/schwarzer Stil wird von kühlem/weissen abgelöst und wieder zurück) oder überhaupt einer simplen Zeitachse mit der EINEN stilistischen Entwicklungsabfolge ist es gewiss nicht getan, auch wenn solche Konstrukte unter Umständen hilfreich sein können, um sich überhaupt einen Überblick zu verschaffen (und dann, bei zunehmender Kenntnis, immer weiter zu differenzieren – warum nicht?) – und glaub mir, mich würde es freuen, wenn sich hier ein paar Leute mehr für einen solchen interessieren würden, wenn es um Jazz vor dem Bebop geht, halte ich hier ja manchmal Monologe, aber oft eben auch nicht, weil ich kann ja auch mit einer Wand reden, das ist weniger aufwändig und ähnlich ergiebig ;-)

Dass das alles nun nicht das eigene Hören diktieren soll – es sei denn, man hat halt gerade darauf Lust – ist doch gekauft, aber das ist jetzt auch nichts, was man sich hier vorwerfen lassen muss, oder? (Und klar, das vertiefte Erforschen der Jazzgeschichte(n) soll auch niemand machen müssen, der nicht drauf Lust hat … aber man kann, dafür sind wir ja im Forum, nicht zum Abnicken, Anregungen platzieren – und auch welche Aufschnappen, aber das geht halt auch nur, wenn sie da sind.

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba