Antwort auf: il n’y a pas de hors-texte – Text und Interpretation

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gypsy-tail-windIch möchte doch noch auf diese Überlegungen zurückkommen @clasjaz – die Computer-Arbeiten sind erledigt, alles neu installiert, die vermutlich gerade abschmierende Harddisk auch erfolgreich auf eine andere übertragen (die ganzen musiqueouverte-usw.-Sachen also gerettet) – und die beiden Abendprogramme der Woche auch hinter mir.

Musique ouverte – alte Zeiten! Ich habe da auch noch Etliches auf Festplatte.

clasjaz Es ist vielleicht auch eine Frage der persönlichen Geschichte, der Hörreihenfolgen und dessen, was dann so im Leben sich einstellt. Und dann trifft man irgendwann Entscheidungen, die immer nur mehr oder weniger begründet sind, sub specie aeternitatis. Und nebenbei natürlich ist auch wichtig, wie viel man hört; bei mir ist das ziemlich überschaubar.

Natürlich ist die Hörbiographie bei solchen Fragen zentral – mich dünkt in der Klassik noch mehr als im Jazz, denn das Repertoire ist ja doch so stark kanonisiert, dass man eben von vielen Werken eine längst nicht mehr überblickbare Menge an Interpretationen vorliegen hat. Aus diesen zu wählen war ja früher viel mehr eine Frage des Geldbeutels und natürlich der Greifbarkeit. Letztere ist heute durch das Streaming anders ein Thema (es gibt halt Dinge, die tauchen dort nicht auf, weil sie zu wenig verbreitet sind, als dass sich jemand ihrer erinnern würde – die Ansicht, alles sei stets verfügbar, ist natürlich eine Chimäre, auch wenn sehr vieles die meiste Zeit verfügbar sein wird … aber dass mich das als Hörer nicht interessiert, ist ja bekannt). Die Reihenfolge des Kennenlernens, des Entdeckens, nimmt ja bei jedem einen eigenen Weg – und hängt ja gewiss auch heute noch von diversen Faktoren ab.

Das und auch das Folgende von Dir kann ich schlicht unterschreiben. Streaming betreibe ich höchst selten, und wenn dann allenfalls mal auf YT. Aber auch selten. Just gestern Abend allerdings „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ – es ist immer lehrreich zu sehen, welche Arbeit Mahler den Musikern abverlangt. War Abbado in Luzern mit Kozená (bin zu faul das andere diakritsche Zeichen zu holen), für meine Ohren fürchterlich, was K. da macht, keine Ahnung, warum Abbado sie geduldet hat. Das muss man aus dem Jenseits singen, nachdem man abgeschlossen hat, im Perfekt eben, finde ich, und nicht als Heulsuse. Gut, das gehört hier nicht hin. – Die Reihenfolge des Kennenlernens ist sicher vielen Unwägbarkeiten unterworfen und das Weitersuchen, wie Du es unten für den Jazz beschreibst, dann noch einmal. Irgendwann wird das Bild dann zwar dichter, aber – auch an @soulpope – irgendetwas Neues kann natürlich noch geschehen. Da möchte ich mich auch nicht ausschließen, obwohl ich wieder einmal etwas fauler als Du in dieser Hinsicht bin.

clasjaz Kremer z. B., seine erste Einspielung möchte ich nicht mehr missen, obwohl ich sie erst vor Kurzem wiederentdeckt habe. Und obwohl das die erste Einspielung der „sei“ war, die ich gehört habe – neben Menuhin. Ihn, Menuhin, würde ich Martzy bei Bach wohl vorziehen, aber was heißt das? Mir geht es nie um den Überblick, sondern, mit Roland Barthes, um das „Punctum“. (Was Du wohl mit Einbrennen benennst.) Den entscheidenden Moment, das Ausscheren, den Ausraster meinetwegen, das Verstörende und manchmal auch Zerstörende in ansonsten wohlbekannter oder -gepflegter Umgebung. Ob dafür Hahn das beste Exempel ist, weiß ich nicht, vielleicht nicht. Aber zig andere sind es auch nicht.

Ich könnte mir vorstellen, dass einer der bei mir manchmal ausschlaggebenden Faktoren (neben dem Verfügen über Zeit und seit einigen Jahren auch mehr Geld als früher) jener ist, dass ich es vom Jazz her gewohnt bin, den Leuten nachzugehen – also den Interpreten, die im Jazz ja (fast) alles sind. Und so ist eben eine Neueinspielung von einem von mir für einen guten Mann gehaltenen Interpreten wie Zehetmair grundsätzlich von Interesse. Dass ich dabei das Fuder überlade und sich von manchen Werken des Kernrepertoires viel zu viele Aufnahmen ansammeln, gehört halt wohl zum Spiel mit dazu. Hahn kam bei mir zwar, wie Du ja weisst, früher, aber es waren eben andere Werke (ich nannte sie oben), mit denen sie mich um den Finger wickelte. Ich kann nicht freihändig mit Barthes umspringen, seine Terminologie ist mir nicht geläufig und seine Gedanken über Musik auch noch nicht, aber da wollte ich schon länger mal hin – aber ja, ich nehme schon an, dass wir da vom Gleichen reden, oder von etwas Ähnlichem? Denn auf der Suche nach dem Ausraster oder der Abweichung bin ich per se nun nicht, eher auf der Suche nach den jeweils eigenen Ausdrucksformen, und da ist ja auch ein viel stilleres Sich-Abheben denkbar (aber das, nehme ich an – Du bist ja gerne bei Kurtag – denkst Du auch mit).

Gewiss denke ich das mit; Kurtág ist aber auch sehr spezieller Mann, der auf kleinstem Raum oder vielmehr in kleinster Zeit das Ausscheren oder die Anhebung des Vertrauten und sein Umlenken betreibt. Für mich ist da ein Satz von Kafka zentral, den er in den Kafka-Fragmenten auch herausgreift – er greift überhaupt pfeilgrad oft das heraus, was mir sehr nah ist -, und zwar: „Ab einem bestimmten Punkt gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.“ (Kann sein, dass das nicht ganz wortgetreu ist, ich zitiere aus dem Kopp.) Zwischen Jazz und Klassik i. w. S. sehe ich auch erhebliche Unterschiede für die Rezeption, wie Du skizzierst, nur bin ich da auch unbedarfter. Oder unbedürftiger. Hahn übrigens brauche ich nun auch nicht unbedingt auf der Insel und bei Kremer erstaunt mich selbst, dass ich die frühere Einspielung der jüngeren vorziehe. Denn Kremer wird sich ja etwas dabei gedacht haben, womöglich in der Weise, sich „zu korrigieren“. Und das in Zweifel zu ziehen bei einem Mann wie ihm ist auch eigenartig. Also gut.

Bei Barthes war ich etwas freihändig. Ich weiß gar nicht, ob er sich zur Musik ausführlicher geäußert hat. Die Sache mit dem „Punctum“ stammt aus seinem Büchlein über die Photographie, „Die helle Kammer“.  Und meint kurz gefasst nicht viel mehr, als dass es in einer photographischen Abbildung etwas Irritierendes geben kann. Worin er die Auszeichnung einer Photographie sieht. Das lässt sich schon auf viele Kunstgenres übertragen.

clasjaz Zehetmair, das habe ich nicht mitbekommen. Ich kann und möchte auch nicht jede Veröffentlichung – jeden „Beitrag zum Verständnis von …“ – haben. Kann gewiss sein, dass ich Zehetmair haben sollte. Anderseits ist da das Werk selbst noch, und, wir hatten es schon einmal davon, mir geht es da so, dass ich die Musik am liebsten im Kopf höre, zwischen den Ohren, nicht mit ihnen. Das geht natürlich nicht … wirklich.

Das „im Kopf höhen“ bzw. Erinnern und Nachdenken über einst gehörte Aufnahmen stellt sich bei mir nach nun etwa zehn Jahren der intensiven Auseinandersetzung mit klassischer Musik auch manchmal und allmählich ein – aber auch da spielt wohl wieder die jeweils eigene Hörbiographie eine entscheidende Rolle. Allerdings – da muss ich jetzt aber eher zum Jazz, mit dem ich mich ja schon viel länger befasse – sind solche Erinnerungen ja manchmal in der Realität gar nicht mehr nachvollziehbar, die erneute Begegnung mit etwas als vertraut und bekannt Gedachtem kann ja zu völligen Neuurteilen führen, die gerade auch wieder interessant sind, weil sie dann eben das eigene frühere Hören hinterfragen machen bzw. vielleicht ein neues Kapitel hinzufügen. Und klar, der Austausch, hier wie anderswo, die Lektüren, das Aufgeschnappte, können allesamt dazu führen, dass Richtungen sich ändern, dass Dinge neu beurteilt werden, dass als bekannt Angenommenes hinterfragt oder überdacht wird. Wenn ich die ältere Kremer-Einspielung das nächste Mal höre, werde ich mich jedenfalls erinnern. Ich habe sie ja schon auf Deine Anregung hin gekauft.

Das meinte ich mit einer kleinen Nuance anders. Eher so, dass das vielmalige Hören, auch in verschiedenen Interpretationen, irgendwann im Kopf eine Art Idealbild – oder nenne es mit dem soziologischen Wort einen Idealtypus – produziert. Davon dürfte ich gar nicht sprechen, weil ich im schlichten Notenlesen nicht sehr weit gekommen bin; eine Mahlersymphonie könnte ich aus den Noten niemals aufrufen. Nur in Erinnerung an Gehörtes, das geht schon. Umgekehrt fächern die zahlreichen Interpretationen dieses fiktive Idealbild permanent auf, und so ist es wohl auch richtig.

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