Antwort auf: 2019 – Erwartungen und erste Eindrücke

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doc-f
Manichäer

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klausk

doc-f 36. NEAL MORSE The great Adventure *1/2

Was genau verursacht denn bei Dir so viel Übelkeit beim Hören?

Übelkeit ist übertrieben, aber ich kann das sehr ausführlich begründen (ich hatte vor Monaten eine Rezension zu dem Album geschrieben):

Ich mag Neal Morse. Er ist einer der wenigen Musiker, der meiner Meinung nach mit einigen Werken die Klasse seiner großen Vorbilder wie Genesis und Yes erreichen konnte. Insbesondere sein Album „Testimony“ und auch einiges von Transatlantic und den frühen Spock‘s Beard schätze ich sehr. Allerdings hat Morse seinen kreativen Zenit lange überschritten. Statt sich aber Zeit zu lassen und weniger zu veröffentlichen, wirft er immer mehr auf den Markt. Wikipedia listet seit 2000 insgesamt 10 Progalben plus 13 mit christlicher Musik unter eigenem Namen, dazu 4 Platten mit Transatlantic und 2 mit den Flying Colours. Und das sind wohlgemerkt nur die Studiowerke. Das letzte so richtig gute Album mit seiner Beteiligung war meiner Meinung nach „The Whirlwind“ von Transatlantic (2009). Viele progressive Bands der Gegenwart meinen ja, dass ihre Kompositionen möglichst lang sein müssen und vergessen dabei, dass Genesis, Yes oder E.L.P. in ihren besten Zeiten alle nur jeweils ein einziges Doppelalbum und nur sehr wenige Tracks veröffentlicht haben, die tatsächlich an der Zwanzigminutengrenze gekratzt haben. Länger ist nicht immer besser. Das gilt auch für die Musik. Und schon Johannes Brahms (1833-1897) schrieb einst weise: „Es ist nicht schwer zu komponieren, aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen.“ Neal Morse veröffentlicht seit Jahren (beinahe) dasselbe Album. Und jedesmal wenn eine neue CD von ihm erscheint, bricht Begeisterung aus über ein weiteres Meisterwerk. Dabei fehlt im schon länger die Inspiration. Seine Platten klingen so, als habe er sie aus dem Lego Baukasten für kleine Proggies zusammengeschraubt. Dieser Baukasten enthält reichlich Keyboardbombast, einige Gitarrensoli, sehr sehr viele Taktwechsel und überhaupt lange instrumentale Passagen, dazwischen auch gerne mehrstimmig gesungene und immer bedeutungsschwangere Texte. Wobei ich betone, dass mich Morse‘ kindlich-christliche Lyrics nicht stören. Ich beurteile Künstler nicht nach ihrer Weltanschauung. Das Doppelalbum „The Great Adventure“ ist thematisch die Fortsetzung des (natürlich) Doppelalbums „The Similitude of a Dream“. Ich fand den Vorgänger schon lang und streckenweise wenig überzeugend, aber „The Great Adventure“ bewegt sich auf über 100 Minuten musikalisch nicht vom Fleck. Man hat das Gefühl, jede Passage schon hundertmal gehört zu haben. Das Werk umfasst 22 Stücke, besteht aber eigentlich aus fünf Longtracks, genannt „Chapter I“ bis „Chapter V“, die zwischen etwa 12 und 30 Minuten dauern. Das ist Geräteturnen an Instrumenten und keine Kunst. Ich will auch gar nicht Neal Morse die alleinige Schuld geben. Ich habe den Verdacht, dass gerade sein langjähriger Weggefährte Mike Portnoy für diese Art Leistungssport mitverantwortlich ist. Portnoy ist sozusagen der Porschefahrer unter den Drummern. Schon bei Dream Theater hatte man (insbesondere bei den Liveauftritten) gelegentlich das Gefühl, dass ihm Geschwindigkeit und demonstrative Virtuosität mehr bedeuten als Songdienlichkeit. Und so bleibt am Ende bei mir Enttäuschung und einfach Langeweile zurück. Wie schon „The Similitude of a Dream“ ist auch „The Great Adventure“ um eine CD zu lang geworden. Auf 50 Minuten gestrafft, wäre es immer noch kein Meisterwerk, aber zumindest gäbe es weniger Leerlauf zu hören. Ich zitiere noch einmal aus der Vergangenheit: „Ich habe den gegenwärtigen Brief aus keiner andern Ursach so lang gemacht, als weil ich nicht Zeit hatte, ihn kürzer zu machen.“ schrieb Blaise Pascal im Dezember 1656. Auch Neal Morse sollte sich einfach mehr Zeit nehmen für seine Veröffentlichungen. Übrigens – ich kann mir durchaus vorstellen, ihn mir trotzdem demnächst live auf Tour anzusehen. Wie gesagt, ich mag ihn eigentlich noch immer. (© Empire Magazin 2019)

zuletzt geändert von doc-f

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