Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Focus Contemporary – Zürich, 27. Nov.-1. Dez. 2019
 
Zwei der insgesamt fünf Konzerte der Veranstaltungsreihe „Focus Contemporary“ hatte ich für mein Tonhalle-Wahlabo ausgesucht. Neben dem Tonhalle-Orchester und dem Collegium Novum Zürich waren auch die Zürcher Hochschule der Künste, der Chor vocativ zürich, Urs Peter Schneider, das Zürcher Kammerorchester (nur als Gastgeber im ZKO-Haus, nicht spielend) und weitere beteiligt. Ich musste am Samstag Holliger und Kopatchinskaja hören und am Sonntag nochmal Werke von Holliger und die Sopranistin Sarah Maria Sun – das war mir schon klar, als ich die Konzerte im Frühling im Saison-Programm der Tonhalle entdeckt hatte.
 
Zürich, Tonhalle-Maag – 29.11.2019

Tonhalle-Orchester Zürich
Heinz Holliger
Leitung
Patricia Kopatchinskaja Violine
Anita Leuzinger Violoncello
Anton Kernjak Klavier

Heinz Holliger Violinkonzert „Hommage à Louis Soutter“ (1993-95, rev. 2002)
Zugabe: Heinz Holliger Das kleine Irgendwas, auf einen Text von Alice Kopatschinskaja (2013)

Heinz Holliger Romancendres, für Violoncello und Klavier (2004)
Bernd Alois Zimmermann Sinfonie in einem Satz (1952)

Los ging es gestern um 18 Uhr mit einer „Prélude“, wie sie vor manchen Tonhalle-Konzerten stattfinden, also einem Künstlergespräch mit Heinz Holliger (Moderation: Tom Hellat) inklusive musikalischer Umrahmung. Dazu waren die Leute schon sehr zahlreich erschienen. Ich hörte letzte Saison eine Prélude mit Prélude mit Matthias Pintscher, da war der Andrang nur halb so gross; es gibt auch normale Konzerteinführungen – bei denen der Vortragende schon auch mal in die Tasten des Flügels greift oder wenigstens Klangbeispiele ab Konserve präsentiert –, und es gibt noch das dritte Format der „Surprise“, bei dem Studierende der ZHdK einen musikalischen Auftakt beisteuern, auch letzteres erlebte ich leider bisher bloss einmal, weil ich in der Regel nicht an jenen Abenden zum Konzert gehe, an denen solche Extras stattfinden – oder weil ich zu lange im Bureau hängen bleibe. Gestern klappte das aber zum Glück. Dass Heinz Holliger ein Mann der klaren, durchdachten Worte ist, ist ja bekannt. Die Veranstaltung war als eine Art Ehrung zum 80. (ein halbes Jahr verspätet) gedacht, er dirigierte, war natürlich auch als Komponist präsent, WeggefährtInnen führten Werke von ihm auf – eine runde Sache, die mich einmal mehr sehr einnahm.

Das Gespräch davor, in dem viel Zeitkritik (Beschleunigung, Wachstums/Kapitalismuskritik, kein Sinn mehr für richtige Musik, usw.) geboten wurde, war interessant – aber zugleich empfand ich es als etwas schwierig, da umrahmt von ergrauten Leuten, die Damen teils mit reichlich Klunkern behangen, eine Kritik am Wachstumsglauben zu hören, die Menschheit müsse zu Zyklen zurückkehren, die Zeit für Erneuerung liessen (ein Modell, das Holliger in manchen seiner Werke zu applizieren sucht). Da sitzt also das Abzockerpublikum mit der fetten Karre und dem dicken Bankkonto und nickt eifrig, wenn vorne ein Querkopf, der selbst im gleichen System tätig ist, ihnen die Kappe wäscht. Vielleicht blieb ja da und dort eine Anregung hängen, zu wünschen wäre es jedenfalls (Nebenbemerkung: gestern war ich ca. 15 Minuten draussen unterwegs zum Einkaufen, Radius weniger als 1 Kilometer, ich sah vier Porsches – nur die Sportwagen gezählt, SUVs zu zählen ist in Zürich müssig, denn die sind Legion).

Aber gut, Holliger erzählte auch einiges zu den Werken des Abends, also dem Louis Soutter gewidmeten Violinkonzert, den „Romancendres“, die auf ein von Clara Schumann vernichtetes Manuskript von Romanzen für Cello und Klavier von Robert Schumann anspielen, sowie über Zimmermanns (für Holliger der bedeutendste Komponist der Nachkriegszeit, noch vor Boulez, Stockhausen etc.) „Sinfonie in einem Satz“. Im Zusammenhang mit letzterer empfahl er sehr nachdrücklich die Biographie „con tutta forza“, die Tochter Bettina Zimmermann letztes Jahr vorlegte. Auch das Werk, das in der Prélude erklang, wurde kurz erläutert, die „Milleva-Lieder“. Holliger hatte damals zu Weihnachten ein selbstgemachtes Heft mit eingeklebten Zeichnungen und Gedichten erhalten, das die Tochter einer Freundin im Alter von 6 bis 10 Jahren erstellte, Abgeschriebenes, Abgehörtes, in einen kindlichen Worten Wiedergegebenes, wobei Holliger meinte, die späteren Texte (IV und V) klängen fast schon wie Texte von alte Mystikern. Ein paar Tage später, am 29. Dezember, sei er mit dem Komponieren bereits fertig gewesen. Dargeboten wurden die Lieder von zwei Masterstudentinnen der ZHdK, die das auch sehr gut brachten (sie treten damit gerade, wo ich das tippe, im Rahmen des fünften Konzertes, das wie schon das erste von Studierenden der ZHdK bestritten wird, erneut auf).

Heinz Holliger Mileva-Lieder (1994)

Kathrin Signer Sopran
Shih-Yu Tang Klavier

I Der Abend kommt
II Mein Herz ist starr geworden
III In die frühe Morgensonne
IV Königsblau ist der Himmel
V Möge sich dein Leben zu einem runden Kreise bilden

Das Gespräch mit Holliger dauerte am Ende über eine Stunde (davon etwa 14 Minuten für die fünf Lieder, die nach einer halben Stunde am Stück dargeboten wurden), der Achtzigjährige hatte danach also weniger als eine halbe Stunde, um sich auf das Konzert einzustimmen. Doch Holliger wirkt so frisch und voller Energie, dass es nicht weiter verwundert, dass er bis zuletzt ganz entspannt – und doch konzentriert – da sass und erzählte. Musik hält eben nicht nur Keith Richards und ein paar Jazzer jung … wie schön!

Im Saal – ich sass wie üblich in der ersten Reihe – gab es zum Auftakt das Violinkonzert von Holliger, gewidmet dem später eher als Maler bekannt gewordenen Louis Soutter (1871–1942), der aber als Geiger bei keinem geringeren als Eugène Ysaÿe gelehrt und später im neu gegründeten Orchestre de la Suisse Romande unter Ernest Ansermet gespielt hatte. Dieser warf man ihn – nachdem er ihn schon von den ersten Geigen ans letzte Pult der zweiten versetzt hatte, irgendwann heraus. Der Querkopf wurde dann sogar weggesperrt in Anstalten, blieb aber ein äusserst aufmerksamer Zeitgenosse, der einzigartige Gemälde schuf – und nie im medizinischen Sinn für verrückt erklärt wurde. Holliger ist überzeugt davon, dass Soutter der brillanteste Kopf ist, den das OSR je in seinen Reihen wusste, und als dieses zum Jubiläum ein Werk bei Holliger bestellte, legte er mit seiner Hommage an Soutter auch eine Art verspäteten Protest ein. Ich hörte das Konzert – auch schon mit Kopatchinskaja und dem Komponisten am Pult – vor gut zwei Jahren schon beim Lucerne Festival, damals aus der Vogelperspektive in der heiligen Halle (mein damaliger Bericht), dieses Mal sass ich ganz nah dran und war mit dem Stück – das Holliger mit Thomas Zehetmair bei ECM auch aufgenommen hat – auch schon etwas vertrauter, und umso beeindruckender fand ich sowohl das Stück wie auch die Darbietung von Kopatchinkaja. Ein enormer Trümmer ist das Ding, in dem die Violine nicht nur gelegentlich vom Konzertmeister sekundiert wird, sondern in einen Regen Dialog mit drei Ko-Solisten tritt, einer Harfe, einem Cymbalom und einer Marimba. Diese drei Instrumente fächern auch wieder das Bezugsnetz auf, das Holliger beim Komponieren im Sinn hatte, von Debussy bis zu Stravinsky – leider habe ich die konkreten Bezüge nicht notiert und schon wieder vergessen, aber für jedes der drei Instrumente hatte er ein Referenzwerk im Kopf (bei der Harfe eins von Debussy, aus dem dieser wohl zunächst ein Violinkonzert machen wollte, beim Cymbalom eins von Stravinsky, in dem dieser das Cymbalom als Continuo-Instrument nutzte? Bei der Marimba …?). In der Schreibweise versuchte Holliger hier, aus den Solo-Sonaten von Ysaÿe eine Art Violinschule zu machen, und mit der so erlernten Technik sei das Konzert dann zu spielen (anders geht es wohl kaum) – es wird also einiges an Vorarbeit vorausgesetzt, und dass diese – neben Zehetmair – auch von Kopatchinskaja geleistet wurde, ist nicht weiter verwunderlich, ist sie doch zweifellos die interessanteste Geigerin ihrer Generation.

Als Zugabe spielte Kopatchinskaja ein kleines Stück, für das Holliger einen Text ihrer damals sechsjährigen Tochter Alice verwendete – ich hörte es vor fast genau einem Jahr schon, als ich Holliger und Kopatchinskaja in Basel mit Schubert und Gubaidulina hörte (klick). Eine charmante surrealistische Erzählung bildet den roten Faden, die Geige wird auf mannigfaltige Art bespielt, es wird geschabt, gefaucht … natürlich ein Heimspiel für Kopatchinskaja.

Nach der Pause folgte dann Holligers Stück „Romancendres“, der Titel ein Zusammenzug zwischen „romances“ und „cendres“, Romanzen und Asche, ein Bezug auf das, was Clara Schumann mit Roberts Romanzen angestellt hat, und Holligers Hommage an Schumann, für dessen Werk er sich schon lange sehr einsetzt (z.B. auch mit einer feinen Gesamteinspielung der Orchesterwerke für audite, natürlich mit Kopatchinskaja als Violinsolistin). Hier hat Holliger – unhörbare – Spuren ausgelegt, C und eS, die Initialen Claras tauchen zu Beginn auf, später wird Roberts Sterbeort EnDEniCH zu Tönen verarbeitet. Allerdings ist das Werk, das ich zwar auf einer ECM-CD vorliegen habe, aber noch nie gehört habe, weit davon entfernt, oberflächlich eine Hommage darzustellen. Eher ist es eine innerliche, persönliche Auseinandersetzung Holligers mit dem Vorbild und mit der Trauer über die vorenthaltenen Werke, in der zwischen Musik und Geräusch, zwischen intensiven Klängen und ganz stillen Momenten alles drin ist. Die Tonhalle-Cellistin Anita Leuzinger und der Pianist Anton Kernjak haben das Stück übrigens für die ECM-CD „Aschenmusik“ (die ansonsten Musik von Robert Schumann enthält) vor ein paar Jahren auch eingespielt (davor gab es bereits eine Einspielung mit Christoph Richter/Dénes Várjon auf der CD „Romancendres“ mit Werken von Clara Schumann und Holliger).

Nach der Pause folgte dann Zimmermanns Sinfonie, Holliger entpuppte sich als der wohl beste denkbare Advokat für dieses Werk, das 1952 nach mehreren Unterbrüchen beendet und im Jahr darauf noch einmal überarbeit wurde, wie Zimmermann in seinem Werkkommentar für die Aufführung in Darmstadt im Sommer 1956 schrieb: „Die Sinfonie entstand in der Nachkriegszeit, in einer Zeit der Niederbrüche, in einer Zeit, die wohl wie kaum eine andere geartet war. Es gab kein Entrinnen; Ungeborgenheit, Unsicherheit, Angst: Symptome, die nicht zu übersehen waren, all das drängte zur Darstellung, zur Aussage.“ Und er fährt im nächsten Absatz fort: „Stil war zwar nicht Nebensache, aber sekundäre. Die Sinfonie stellt einen Abschluss in meinem Schaffen dar. Der grosse Orchesterapparat, die Weiträumigkeit der Anlage, die simultane Verwendung von Reihentechnik und sogenannter ‚freier Atonalität‘, die dynamische Form und die zum Teil emanzipierte Klangfarbe, all das was einer ‚Behandlung‘ unterworfen, die ich seitdem nicht mehr angewendet habe.“ Ein beeindruckendes Werk, bei dem auf der Bühne fast nicht für alle Platz war (man stellte mir ein paar Tage vor dem Konzert eine neue Karte für Reihe 3 zu, da die ersten beiden Reihen ausgebaut werden mussten). Ich muss da wohl mal tiefer forschen, die wenigen vorliegenden Zimmermann-Aufnahmen mal anhören (von der Sinfonie habe ich eine mit Wand aus den Achtzigern, Wand war wie es scheint mit Zimmermann lange befreundet), auch die gerade wegen Zender erstandene Wergo-CD mit drei Werken, die 1972 erschienen sind.
 

 
Zürich, Tonhalle-Maag – 30.11.2019

Collegium Novum Zürich
Clement Power
Leitung
Sarah Maria Sun Sopran
João Carlos Pacheco Schlagzeug
Marcus Weiss Saxophon

Heinz Holliger „Ma’mounia“ (2002) für Schlagzeug und Ensemble
Sergej Newski „Cansiòn“ (2019) nach „La Nuova Gioventù“ für Sopran, Saxophon und Ensemble, auf Worte von Pier Paolo Pasolini (Uraufführung)

Isabel Mundry „Traces des moments“ für Klarinette, Akkordeon, Violine, Viola und Violoncello (2000)
Heinz Holliger „À plume éperdue“ (2015) für Sopran, Altflöte, Englischhorn und Violoncello, auf Texte von Philippe Jaccottet und Heinz Holliger
Mark Andre Drei Stücke für Ensemble (2019) (Schweizer Erstaufführung)

Doch das war noch nicht alles. Während das Tonhalle-Orchester mit Holliger und Kopatchinskaja das Violinkonzert für Soutter sowie Werke von Haydn und Mozart im Rahmen eines Gastspiels im Kloster Muri aufführte, fand in der Tonhalle-Maag ein feines Konzert des Collegium Novum Zürich statt, bei dem auch Holliger wieder auf dem Programm stand, als einziger der vier vertretenen KomponistInnen mit gleich zwei Werken. Ich war schon zur Konzerteinführung dort, bei der der sehr junge neue künstlerische Leiter des CNZ, Johannes Knapp, das Programm vorstelle, Hewski und Mundry waren gleich selbst dabei, um mit ihm über ihre Stücke zu sprechen.

Den Auftakt machte Holligers „Ma’mounia“ von 2002, ein Auftragswerk für den Concours de Genève, wobei Holliger kein Interesse an „schneller-höher-weiter“-Wettbewerbsstücklein hat (und drum auch ein Pferd und Hufgetrappel eingebaut habe, was ich im Konzert dann aber nicht wirklich hören konnte). Die Idee dazu kam ihm bei einem Treffen im Genfer Restaurant „Ma’mounia“. Ein faszinierender Auftakt, in dem mehr der Zusammenhang von Klang und Materialität sehr schön zum Vorschein kam, während natürlich durch den sehr virtuosen Solo-Part (der Schlagzeuger steht dennoch hinter dem Ensemble, von meinem Platz aus konnte ich wenig von seiner Performance nur wenig sehen) auch einiges an Spektakel enthalten ist, das aber mit musikalischen Mitteln durchaus wieder gebrochen wird.

Als zweites und längstes Werk des Abends erklang dann eine Uraufführung, zugleich ein Auftragswerk für das CNZ, dem der 1972 geborene Sergej Newski eine eigene Textcollage aus späten Gedichten Pasolinis, im friulanischen (forlanischen) Dialekt seiner Mutter verfasst, zugrunde legte. „Ich habe bei der Arbeit an Cansión immer an die Idee einer fliessenden Synthax gedacht, eines permanenten Perspektivenwechsels, einer permanenten Verwandlung des Materials, in der die Materialhierarchien dekonstruiert, verlorengehen, wieder aufgegriffen und neu zusammengesetzt werden“ (aus Newskis Text im Programmheft). Im Zentrum steht dabei das Duo aus Stimme und Saxophon (Sopran und Bariton), das aber immer wieder ins Ensemble eingebunden wird, dessen verschiedenen Kombinationen „eine Art Parallelhandlung“ entwickeln (Newski). Marcus Weiss und Sarah Maria Sun habe er die Idee zum Werk zu verdanken, schreibt Newski, und die beiden waren denn auch beeindruckend in der Aufführung des Stückes, das eine Art konstanter Unterbrechung ist, die aber dennoch – wohl auch dank den Worten Pasolinis, die zugleich die Unterbrechungen durch ihre Collagierung ebenfalls stützen – einen Sog, einen Flow entwickeln. Das war ziemlich umwerfend, und dass danach eine Pause folgte, mochte das Publikum zuerst gar nicht recht begreifen (im Programmheft stand nichts, aber das Licht im Saal ging an und die Helfer, die sonst in Windeseile Stühle, Notenständer und Mikrophone (wäre schön, wenn einiges von dem Konzert tatsächlich auf CD erschiene) blieben aus …

Nach der Pause folgte zunächst das Stück von Isabel Mundry (die Reihenfolge im Programmheft, wo zudem der Name des Schlagzeugsolisten fehlte – dass die Namen der Gäste an Cimbalom und Harfe beim Konzert vom Vortag, und der Name des Tonhalle-Schlagzeugers, die die Co-Solo-Parts bei Holliger übernahmen, ebenfalls nicht publiziert wurden, ist auch schade). Mundry versucht in ihren „Traces des moments“ den japanischen Gärten auf die Spur zu kommen, die wir alle von Fotos kennen, wie sie z.B. gerne in Einrichtungshäusern die Wand dekorieren. Mundry meinte, bei ihrer ersten Reise nach Japan, in deren Folge das Stück entstand, sei es ein Schock gewesen, zu begreifen, dass diese Bilder auch tatsächlich das seien, was die Gärten sind: Natur in Absenz der Natur, Natur, in der die Natur durch Abwesenheit dargestellt wird. Starre Gebilde, auf die von oben geblickt wird, wie durch einen Rahmen hindurch. Mundry sucht die „naturhaft unberechenbaren Momente und alles Geformte als Zeichen zu lesen, Resonanzphänomene in einem komplexen Netz gegenseitiger Bespiegelung“, wie sich eben die in den Kies geharkten Wellen in den Wellen spiegeln, die der Brunnen im Teich erzeugt. So wählte sie eine Besetzung, in der diese Bespiegelung ebenfalls doppelt und dreifach da ist – oder zyklisch, um den Bogen zu Holliger zu schlagen: die Klarinette spiegelt sich klanglich im Akkordeon, dieses hat dieselben harmonischen Möglichkeiten wie das Streichtrio, doch für sich spiegeln die Streicher wieder die Linearität der Klarinette. Ein faszinierendes und dabei auch verdammt schönes Stück – die Kombination der fünf Instrumente ist wirklich gelungen.

Dann trat noch einmal die Sängerin Sarah Maria Sun auf, übrigens im knallgrünen Miederkleid. Holligers „A plume éperdue“ basiert auf Worten von Philippe Jaccottet, vom selben Jahrgang wie der Widmungsträger des Holliger’schen „feuillet d’album“, Pierre Boulez. Der Text öffnet mit „Poids des pierres, des pensées“. Das Gewicht der Steine und der Pierres ist halt schon immens. Holliger stellt den Jaccottet-Worten zwei Paraphrasen entgegen, in denen der Schalk blitzt, wenn diverse Begriffe und Zitate aus der Terminologie und dem Werkkatalog von Boulez auftauchen, die „plis“ etwa, und dann tritt auch auf „le peu de l’être […] sans le marteau du maître“. Der Titel des Stücke ist natürlich Mallarmés „Un coup de dès“ entliehen. Sun fand ich hier vielleicht noch etwas beeindruckender, das kleinere, konzentrierte Ensemble machte das Stück aber auch einfacher zu durchdringen, obwohl es in seiner Anlage wohl ebenso vielschichtig ist, wie das von Newski.

Den Ausklang machten dann die drei Stücke von Mark André, für mich wie Newski ein völlig neuer Name. Auch er schreib fürs Programmheft selbst: „Es geht um die Musik des Entschwindens, des Verschwindens. Es betrifft alle Aktions-/Klang-/Zeittypologien einerseits und die formale Gestaltung andererseits. Die abwesende Präsenz und die anwesende Abwesenheit des Heiligen Geistes und des verschwundenen Auferstandenen werden u.a. im Johannes-Evangelium artikuliert. Das Stück bezieht sich dabei auf Joh. 3, 8: ‚Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weisst nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.'“ – Die Zeilen scheinen mir für das Verständnis tatsächlich einigermassen erhellend zu sein, jedenfalls ist das Musik, der etwas Ätherisches innewohnt, die kommt und geht, die verweht wird, im Schweigen vergeht – das letzte Stück endet mit einer Pause, die noch mit einer Spielanweisung versehen ist, „leidenschaftlich“ oder sowas in der Art, Dirigent Clement Power stellte das sehr schön dar, wie er überhaupt bei allen Stücken einen glasklaren Blick zu haben schien (bei Holligers zweitem wirkte er nicht mit).

Ein sehr anregender Konzertabend, der an den vorangegangenen zwar anschloss, aber auch viel weiter ging. Beides Abende, wie sie viel öfter geboten werden müssten, finde ich. Aber beim CNZ kommen wohl höchstens zweihundert Leute, die Tonhalle-Maag (Balkon/Galerie zu, freie Platzwahl) wirkt also recht dünn besetzt. Wenn Kopatchinskaja auftritt, zieht sie natürlich viele Leute an (der eine Platz neben mir blieb nach der Pause dann auch gleich leer, ist ja leider öfter so, wenn Solisten auftreten – umso mutiger finde ich, dürften die zweiten Teile sein, wobei es da bei Holligers Auswahl nichts zu kritteln gibt, bei viel zu vielen Konzerten aber schon: zuerst das grosse Virtuosenstück, danach Beethoven/Mozart/Schubert/Brahms-Tschüss).
 

 
Nächste Woche geht es ähnlich dicht weiter – aber auf neue Musik im Konzertsaal muss ich eine ganze Weile warten. Morgen geht es zur Cappella Gabetta, die mit Sergei Nakariakov ein Barock-Programm bietet (Dell’Abaco, Vivaldi, Bach etc.), am Mittwoch dann ibidem mit den Berliner Barock Solisten (Konzertmeister ist Willi Zimmermann, der auch als Konzermeister des Zürcher Kammerorchesters amtet), Julia Fischer und Niels Mönkemeyer werden auch dabei sein (und zusammen kV 364 spielen – meine Konzertpremiere, da freue ich mich sehr darauf), am Freitag sind dann die Weilersteins zu Gast, Joshua dirigiert das Tonhalle-Orchester und Alisa Weilerstein spielt das Cellodigns von Britten (danach folgt Schostakowitschs Elfte), am Samstag höre ich dann das ZKO unter seinem Ehrendirigenten Rogers Norrington mit einem Haydn-Programm (die Symphonien 95 und 98 umrahmen das „Lerchenquartett“, wobei mir nicht klar ist, ob letzteres in einem Arrangement für Kammerorchester erklingt oder tatsächlich als Streichquartett).

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