Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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yaiza

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HOMMAGE AN GIDON KREMER (18.-27.10.2019) im Konzerthaus Berlin

Sa, 26.10.19
Chronicle of Current Events I Werner-Otto-Saal
KREMERATA BALTICA
Weinberg: Concertino für Violine und Streichorchester op.42 (Leitung und Violine: Gidon Kremer)
Schostakowitsch: Antiformalistischer Rayok (Bearb. v. Andrei Pushkarev für Bass und Streichorchester, Bass: Alexei Mochalov)

Beim Reservieren der Karten für die Vorstellungen war mir intuitiv klar, dass die letzten beiden Abende das Herzstück dieser Hommage bilden würden und ich habe die Karten ohne weiteres Wissen dazu gekauft. Lange wurde kein Programm dazu veröffentlicht; immer wieder Änderungen und N.N. über N.N., so dass ich das dann gar nicht weiterverfolgte. Im Juni gab es dann die Premiere zu „Chronicle of Current Events“ in Amsterdam. Hierbei handelte es sich um ein Co-Produktion der Kremerata Baltica mit Holland Festival, Alte Oper Frankfurt, Gewandhaus Leipzig und Konzerthaus Berlin. Im Publikumsgespräch am Mittwoch, empfahl Kremer auch nochmal beide Abende am WE. So fanden sich kurz vor 22.00 Uhr ca. 250 Zuhörer vor dem in Black-Box-Stil gehaltenen und für diesen Abend ausverkauften Saal ein. Aus den verschlossenen Türen zum 2. Rang dröhnte die 5. Sinfonie von Schostakowitsch. Im kleineren Saal gegenüber nahmen die Musiker der Kremerata und Gidon Kremer ihre Plätze ein (er spielte bis ca. eine 3/4h vorher noch das Violinkonzert von Weinberg im Großen Saal) und begannen mit Weinbergs Concertino. Das Concertino führt zunächst auf die Fährte von fast schon fröhlicher Frühlings- oder Sommermusik, im 2. Satz wird es nachdenklicher, der 3. Sitz ist aber sehr gruselig und hinterlässt eher ein Schaudern. Nach Beendigung des Concertinos begrüßte Kremer das Publikum und sprach noch einige Worte dazu und leitete in eine Erklärung und Einordnung in das, wie er es nannte, Katastrophenjahr 1948 über. Die Rede war von einer von Shdanow geführten Kulturpolitik, in der individuelle Entfaltung unterdrückt wurde und Kremer jeweils ein Werk zweier Künstler vorstellen wollte, die sich in ihnen damit auseinandergesetzt hatten.

Bei Schostakowitsch sagte er gleich dazu, dass die Kantate “ Der Antiformalistische Rayok“ in der Schublade landete. Im Hintergrund wurde das Bild einer Versammlung eingeblendet, Kremer nahm im Publikum Platz und Alexei Mochalov und Andrei Pushkarev (Schlagwerker der Kremerata) betraten die Bühne. Auf dem Programmzettel war zu lesen, dass Pushkarev die Schostakowitsch-Kantate für Bass und Streichorchester bearbeitete und Alexei Mochalov ein versierter Sänger ist, der schon mit Spivakov, Roshdestvensky und Penderecki zusammengearbeitet hatte und Solist am Moskauer Staatl. Kammermusiktheater ist. Los ging’s. – Man merkte sofort, dass da ein toller Sänger vor uns stand. Er sang verschiedene Rollen und schnell war klar, dass dies eine Persiflage auf die Versammlung, deren Bild vorher eingeblendet wurde, ist. Die Kremerata spielte ausgezeichnet und die Musiker übernahmen zusätzlich noch den Chor (der Deligierten). Auf der Leinwand wurden die Untertitel auf deutsch eingeblendet. Der Text stammt von Lev Lebedinsky, einem Musikwissenschaftler. Musikalisch gesehen ist es ein vergnügliches Stück mit volkstümlichen Anleihen und Schostakowitsch machte sich musikalisch über alles mögliche lustig… bis hin zum übertriebenen Gesang, die falsche Betonung bei Rimski-Korsakow und auch „Kalinka“ blieb nicht verschont. Es ist so dieses Lachen, das irgendwann gefriert, wenn man die Umstände, unter der das Stück geschrieben wurde, bedenkt. Für den Moment lieferten aber alle Künstler 1A Leistungen ab und das galt es auch zu genießen. Radio Russkij Berlin war u.a. auch Medienpartner der Hommage und die vielen russischsprachigen Zuschauer genossen das sichtlich und hörbar. Ihr Lachen war immer schon einige Sekunden vorher zu hören. Durch verschüttete Sprachkenntnisse konnte ich mir das ein bisschen aufteilen und mich auch von den Untertiteln lösen und Mochalov zuschauen. Wirklich ein Vergnügen. Auch die Musiker beobachteten sowohl Mochalov als auch das Publikum und es entstand eine ganz schöne Stimmung. Mochalov merkte natürlich, dass er gut ankam und zeigte zum Schluss noch einen angedeuteten Kasatschok — auch wiederholt als Zugabe. Damit endete die Aufführung, aber das Publikum wollte nach langem Applaus erst gar nicht gehen. Schnell formten sich kleine „Gesprächskreise“. Ich unterhielt mich noch mit einem russischen Pärchen, die bisher nur viel über diese Persiflage hörten, sie aber noch nie in einer Aufführung erlebt hatten. Es schien, als müssten sich wirklich erstmal viele darüber austauschen.

Es war schon spät, aber ich war neugierig genug, um wenigstens zu Hause noch etwas dazu zu lesen. Es gibt Videos von Aufführungen (meist 4 Bässe und Orchester), die ich mir vielleicht mal später anschauen werde. Zunächst behalte ich die erlebte in mir drin. Der Text interessierte mich auf jeden Fall und war schnell zu finden. Mittlerweile habe ich innerlich nachgegeben und mir eine CD mit dem Rayok bestellt. Anfänglich gab es sogar per E-Mail Absagen (Titel ist nicht mehr im Lager auffindbar), schlussendlich stieß ich auf eine CD von Capriccio, auf der auch die Version mit 1 Bass, Chor und Orchester zu finden war – und dann noch mit Alexei Mochalov, super (!) Das ist natürlich für das Nachhören sehr schön und eine tolle Erinnerung an den Abend.

Es gibt einen interessanten ZEIT-Artikel vom 17.2.1989, der über die Erstaufführung dieser satirischen Kantate im Jan. 1989 in Washington unter Leitung von Mstislaw Rostropowitsch, der zu diesem Zeitpunkt auch die Partitur besaß, berichtete. Im Booklet der CD wird auch die Versammlung von Feb. 1948 angesprochen, aus deren Folge „Schostakowitsch, Prokofjew, Chatschaturjan u.a. als ‚formalistisch‘ und ‚volksfeindlich‘ gebrandmarkt und aus ihren akademischen Positionen entfernt wurden“. Den Text schrieb Bernd Feuchtner, der auch Bücher zu Schostakowitsch verfasst hat.

Was bleibt von diesem Abend:
– definitiv noch mehr Neugier
– über „satirische“ Verarbeitung hatte ich zu Schostakowitsch schon auch gelesen, aber diese Kantate entblättert noch mal mehr
– der Verfasser des Textes Lev Lebedinsky erscheint interessant
– und der Text an sich sowieso – da steckt sehr viel drin. Schostakowitsch gab ihm als vollen Titel: Rayok – Praktisches Handbuch für den Kampf für den Realismus in der Musik und gegen den Formalismus in der Musik
Als Rollen: Vorsitzender der Versammlung, Stalin (charakterisiert durch sein Lieblingslied „Suliko“, Shdanow (produziert sich als Sänger, hatte wohl eine Gesangsausbildung), Tschepilow (Nachfolger von Shdanow) und die Funktionäre als Chor
Schostakowitsch soll laut Feuchtner auch ein umfangreiches „kritisches“ Vorwort im Stil offizieller Texte verfasst haben. Auch der ZEIT-Artikel schreibt vom Kulturfunktionären Pawel Apostolow, der die Reden der drei Politiker lobpreisen lässt.

Dieser Abend war wie ein „Geschenk“ oder besser Wink mit dem Zaunpfahl, um sich nochmal mit der Kulturpolitik dieser Zeit auseinanderzusetzen… und ja, dafür bin ich Gidon Kremer dankbar. Ich hätte nicht gedacht, so direkt mit diesem Thema konfrontiert zu werden… Es ist ein Unterschied, ob jemand darüber erzählt oder Werke aufführt und sprechen lässt. Er hat den Bezug zur Gegenwart nicht ausgesprochen, viele Zuschauer hatten diesen aber sofort im Kopf, was sich in den Gesprächen danach schnell zeigte.

Die Kremerata hat das Stück auch so gut aufgeführt, dass ich mir fast wünschen würde, eine Einspielung auf CD zu hören. Vielleicht spielen sie zu Schostakowitsch noch etwas ein. Nebenbei lief neben der schon erwähnten CD von Vladimir Spivakov und den Moscow Virtuosi (2004) auch eine Kremerata-CD mit Orchestrierungen der Schostakowitsch-Sonaten für Violine und Viola (2006; zum „100. von D.Sch) Und siehe da, nach so einer Woche lesen sich die Booklets und Auflistungen ganz anders. Beim Arr. der Violinsonate hat neben Michail Zinman auch Andrei Pushkarev für das Schlagwerk mitgewirkt…

zuletzt geändert von yaiza

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